Dienstag, 23. August 2016

Faktizität und Bullshit

Fakten sind Informationen, die wir aus der Wirklichkeit aufnehmen und die wir jederzeit überprüfen können. Sie helfen uns zu einem relativ zuverlässigen Wissen, das im Allgemeinen dafür ausreicht, dass wir uns in der Wirklichkeit orientieren können. Wir holen uns die Fakten aus der Landkarte, um eine Reise zu planen. Es kann sein, dass eine Straße, die wir nehmen wollen, wegen einer Baustelle gesperrt ist. Dann zeigt die Überprüfung, dass ein Faktum korrigiert werden muss und wir gewinnen ein neues Faktum: die Straße X ist von … bis nicht passierbar.

Es gibt natürlich Wirklichkeitsbereiche, in denen die Faktizität nicht so einfach festgestellt werden kann. Z.B. gehen fast alle Menschen, die sich damit befassen, davon aus, dass die Nationalsozialisten Konzentrationslager errichtet haben, in denen sie massenhaft Menschen ermordet haben. Dennoch gibt es Leute, die unter dem Stichwort „Auschwitz-Lüge“ die Existenz solcher Vernichtungslager bestreiten. Jedoch sind historische Fakten nicht deshalb Fakten, weil sie jemand behauptet und jemand anderer ableugnet, sondern weil eine entsprechende Quellenlage die Überprüfung jederzeit zulässt.

Das Bullshit-Szenario


In einem Artikel in der Neuen Züricher Zeitung stellt Eduard Kaeser drei Szenarien der Erkenntnistheorie gegenüber. Das erste ist das Szenario der Wahrheit. Aussagen werden überprüft, wer absichtlich das Falsche sagt, ist ein Lügner. Ein bekanntes Beispiel lieferte der US-Außenminister Colin Powell, der 2003 vor der Uno die Intervention im Irak mit falschen faktischen Behauptungen begründete. Er hat gelogen, auch deshalb, weil er selber das Wahrheitsszenario anerkannte.

Nicht so die maßgebliche Gruppe in der damaligen US-Administration. Sie errichtete das Szenario der Macht. Kaeser zitiert einen Chefberater der Regierung Bush, der 2004 behauptete, dass die Welt nicht mehr nach dem Prinzip der wahrheitsorientierten Wirklichkeitssicht funktioniere: „Wir sind jetzt ein Weltreich, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie in dieser Realität Nachforschungen anstellen, handeln wir schon wieder und schaffen neue Realitäten, die Sie auch untersuchen können, und so entwickeln sich die Dinge. Wir sind die Akteure der Geschichte, und Ihnen, Ihnen allen bleibt, nachzuforschen, was wir tun.“

Es werden zwar Fakten geschaffen, aber über die Motivationen und Bedeutungen dieser Fakten brauchen die Mächtigen keine Rechenschaft abzulegen. Sie overrulen die Überprüfung der Fakten, indem sie neue schaffen. Sie geben das Tempo vor, und die, die irgendwo eine Verantwortung einmahnen wollen, kommen immer zu spät.

Als ob das nicht schlimm genug wäre, wird selbst diese Form der Perfidie durch die Haltung der Postfaktualität übertroffen. Kaeser nennt es das Szenario des „Bullshits“ und nimmt Donald Trump als Beispiel dafür: „Mit demonstrativer Schamlosigkeit produziert er Unwahrheiten und Widersprüche und schert sich einen Dreck um die Folgen. Paradoxerweise macht ihn diese Unglaubwürdigkeit umso glaubwürdiger, weil er sich im «Bullshit» geradezu suhlt. Er tritt auf mit dem Habitus: Seht doch, ich bin der, als den ihr Politiker schon immer sehen wolltet – ein Behaupter, Wortverdreher, Lügner! Ich bin nur ehrlich – ehrlich unehrlich!“

Es geht nicht mehr um Fakten, es geht nicht mehr um eine überprüfbare Realität. Sondern es geht um die permanent neu erfundene Selbstdarstellung, die überraschen will. Es wird das Kurzzeitgedächtnis der Rezipienten geübt, damit das Langzeitgedächtnis verkümmert. Neues, mag es noch so abstrus, verdreht oder unlogisch sein, schafft ein gutes Gefühl, und darum geht es im „postfaktischen Zeitalter“: schlechte Laune durch Blödheit zu vertreiben.

Kaeser nennt das die „Bewirtschaftung der Launen“, die seiner Meinung nach die Internetgesellschaft als „Nichtwissenwollengesellschaft“ entgegenkommt. Jede Information ist verfügbar, und wir wollen sie gleich und schnell haben. „Wir fragen nicht, wie man objektives Wissen gewinnt und wie es begründet ist. Wir googeln. Wir haben die Suchmaschine bereits dermaßen internalisiert, dass wir Wissen und Googeln gleichsetzen.“

Im Wienerischen gibt es übrigens noch ein erkenntnistheoretisches Szenario, das André Heller in seinem Roman „das Buch vom Süden“ dargestellt hat: „Hätte etwa Ludwig Wittgenstein gegenüber einem als Kellner oder Chauffeur arbeitenden Landsmann seinen berühmten Gedanken »Die Welt ist alles, was der Fall ist« zum Ausdruck gebracht, wäre ihm mit einiger Wahrscheinlichkeit die Antwort erteilt worden: »Eh klar, a Schas.«“ (S. 27)

Postmoderne und Konstruktivismus


Das postfaktische Zeitalter passt scheinbar in den Rahmen der Postmoderne. Darunter wird eine Geistesströmung verstanden, die im Unterschied zur Moderne den blinden Glauben an die Faktizität durch die Auffassung ersetzt, dass das, was wir unter Wirklichkeit verstehen, ein Konstrukt unserer internen Informationsverarbeitung darstellt. Wirklichkeit ist immer Interpretation.

Allerdings vertraut der Konstruktivismus auf den Erkenntnisprozess als Wirklichkeitsproduzenten, der in einem beständigen Abgleichen von Daten abläuft, die von innen und die von außen kommen. Der Konstruktivismus taugt nur als Wirklichkeitstheorie, wenn diese Unterscheidung zwischen Innen und Außen überprüft und geklärt werden kann. Außerdem ist er als Modell nur brauchbar, wenn wir den Begriff der äußeren Faktizität ebenso aufrechterhalten wie den der sozialen Zurechenbarkeit. In diesem Sinn widerspricht die postfaktische Praxis der postmodernen Weltsicht diametral und zeigt sich als zynische Degenerationserscheinung, die als Deckmantel für Gier fungiert: Gier nach Anerkennung und nach Macht.

Nachdenken statt reagieren

Ein Bundespräsident, der nachdenkt, bevor er etwas sagt, erscheint vor diesem Szenario als hoffnungslos überholt. Deshalb werden die Gegner im laufenden Wahlkampf nicht müde zu behaupten, der nachdenkliche Kandidat Van der Bellen leide an Demenz. Jemand, der nicht auf jede Frage wie aus der Pistole geschossen eine vorgekaute Meinung produzieren kann, muss geistesgestört sein. Es ist nicht mehr wichtig, was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird. Es wird nicht auf Bedeutungen und Implikationen von Aussagen gehört, sondern einzig und allein zählt deren Neuigkeitswert. Wenn das, was gestern gesagt wurde, für die eigenen Zwecke nicht opportun ist, wird eben das Gegenteil behauptet. Wenn die Wirklichkeit nicht zu dem passt, wie man sie gerne hätte, wird sie eben erfunden und das Erfundene so lange behauptet, bis es alle glauben.

Nachdenken schafft eine Unterbrechung, in der wir uns klar werden können, ob wir in der inneren oder äußeren Realität sind. Die Unterbrechung der äußeren Reizflut gibt uns die Chance, für uns selber zu spüren: Was ist wahr, was ist gut?

Vgl.: Wenn Fiktion zum Faktum wird
Warum ich mich für Van der Bellen engagiere

1 Kommentar:

  1. Wenn die Sprache nicht stimmt,
    dann ist das, was gesagt wird,
    nicht das, was gemeint ist.

    Wenn das, was gesagt wird,
    nicht das ist, was gemeint ist,
    so kommen keine guten Werke zustande.

    Kommen keine guten Werke zustande,
    so gedeihen Kunst und Moral nicht.

    Gedeihen Kunst und Moral nicht,
    so trifft die Justiz nicht.

    Trifft die Justiz nicht,
    so weiß das Volk nicht,
    wohin Hand und Fuß setzen.

    Also dulde man keine Willkürlichkeit
    in den Worten.

    Das ist es, worauf es ankommt.

    Konfuzius, "Buch der Gespräche" 500 vChr

    Danke an Angelika für das Zitat!

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