Dienstag, 12. Dezember 2017

Die Illusion des bewussten Selbst

Die zentrale exekutive Struktur
(CES nach Oakley/Halligan)
Wie im vorigen Blogbeitrag beschrieben, nehmen viele Forscher an, dass unser Gehirn in uns eine fortlaufende Geschichte aufzeichnet, mit allen Erfahrungen, die wir so machen. Aus diesem Datenmaterial werden dann nach bestimmten Filterkriterien Vor-Gedanken ausgewählt, die uns dann als Gedanken bewusst werden. Diese Filter sind nach Überlebenskriterien ausgerichtet und sind deshalb auch mit Gefühlen verbunden. Sie berücksichtigen auch unsere aktuellen Wahrnehmungen und versuchen, relevante Informationen für die jeweilige Situation zu liefern.

Wir sehen in der Entfernung die Person X und fühlen uns zu ihr hingezogen. Es kommen gleich die Gedanken, was wir mit der Person reden könnten und ein paar Erinnerungen an das letzte Treffen, das so nett war. Schon bewegen wir uns in die entsprechende Richtung. Im anderen Fall bemerken wir Person Y auf der anderen Straßenseite, und ein unangenehmes Gefühl kommt auf, begleitet von Gedanken an eine schwierige Situation mit dieser Person. Wir wenden uns ab und tun so, als würden wir die Person nicht bemerken.

All das spielt sich in unserem Bewusstsein ab, aber wird gelenkt von gespeicherten Erfahrungen, die unsere Stimmungslage beeinflussen, ob wir wollen oder nicht. Die Stimmungslage wiederum lenkt unsere Handlungen, und wir sind dabei noch davon überzeugt, dass wir, also unser bewusstes Selbst, diese Handlungen gewählt hat.

Mit dieser Illusion machen die Gehirnerforschungen der letzten Jahrzehnte langsam, aber sicher Schluss. Unser bewusstes Selbst, auf das wir so selbstbewusst stolz sind, ist im besten Fall eine zeitweilig aktive Instanz, die den Impulsen, die aus dem Unterbewussten kommen, nachhinkt und, nachdem schon alles entschieden ist,  so tut, als wäre sie der große Macher.

Die zentrale exekutive Struktur 


Zum näheren Verständnis der Theorie gehe ich hier etwas genauer auf die Zusammenhänge ein. Der Oakley-Halligan-Ansatz, von dem hier die Rede ist, geht von einer in den unbewussten Hirnarealen operierenden Struktur aus, an der viele Systeme beteiligt sind, und die den laufenden Betrieb verwaltet. Sie heißt zentrale exekutive Struktur (CES) und trifft alle Entscheidungen nach Prüfung und Bewertung der einlangenden Informationen. In dieser exekutiven Struktur laufen die Informationen zusammen, um sie in sinnvolle Handlungen zu übersetzen.

Ein Teil dieser Struktur heißt „persönliches oder individuelles Narrativ“, und dort sind die Erlebnisse der betreffenden Person aufgezeichnet und werden laufend ergänzt (genauer gesagt: Es werden nicht Ereignisse aufgezeichnet, sondern eine personalisierte Erzählung von diesen Ereignissen) . Die Konstrukte des Selbst (für wen oder was wir uns halten) sind auch in dieser Struktur enthalten, ebenso wie Landkarten des Körpers (die mentalen Repräsentationen unserer Körperteile) und vieles andere mehr. Die Speicherung umfasst den Inhalt, aber nicht dessen Herkunft. Nicht enthalten sind die Regelkreise für die grundlegenden Lebensvorgänge: Atmung, Verdauung, Schlafrhythmen und individuelle Muskelkontrolle.

Die Schaffung eines stimmigen persönlichen Narrativs bietet nach der Theorie einen evolutionären Vorteil für das einzelne Individuum, weil dadurch ausgewählte Inhalte geteilt werden können, die dann allen dienen. Dieser soziale Vorteil entsteht, wenn private Inhalte wie Gedanken, Ideen, Konzepte, Glaubensannahmen, Abstraktionen, Empfindungen, Gefühle, Triebe und Sorgen aus dem eigenen Narrativ mitgeteilt werden, implizit durch Körpersprache und explizit verbal und über andere Kanäle wie das Schreiben oder die verschiedenen Formen der Kunst. Auf diese Weise prägen die Inhalte der unbewussten Kontrollsysteme die gesamte Kultur.

Was folgt daraus?


Soweit die Theorie in Umrissen. Was bedeutet sie nun für die Praxis? Macht es einen Unterschied, wenn wir davon ausgehen, dass unsere bewusste Mitwirkung in unserem Leben relativ bedeutungslos ist? Und macht es dann überhaupt noch Sinn, an unserer „Bewusstheit“ zu arbeiten? Der Ansatz von Oakley und Halligan beruht auf  einer klaren Unterordnung des Bewusstseins unter das Unbewusste. Er geht aber nicht darauf ein, dass durch die Tatsache, dass sich das Unbewusste laufend fortbildet, auch das eigene Bewusstsein mit seinen Intentionen zu einer Beeinflussungsquelle für das Unbewusste werden kann, also in der Weise kausale Einflüsse ausübt, in der auch andere Informationsquellen aus der Umwelt der zentralen exekutiven Struktur Wirkungen erzeugen und Veränderungen hervorrufen.

Die Rolle des Bewusstseins als Instanz der Verhaltenssteuerung hat möglicherweise ausgedient. Die Konsequenzen dieser Desillusionierung vor allem in Hinblick auf die persönliche Verantwortung und den freien Willen werden heiß diskutiert, darum geht es aber hier im Moment nicht.

Wie steht es um die Kontrolle von oben nach unten?


Vielmehr interessiert mich die Frage, ob die wissenschaftlich gut abgesicherte Erkenntnis, dass die unbewusste Handlungsplanung alles Nötige für die Entscheidungsprozesse erledigt, bevor wir uns dessen bewusst werden, zur Folge hat, dass wir keinen bewusst gesteuerten Einfluss auf die vorausliegenden unbewussten Entscheidungsprozesse nehmen können. Gibt es nach diesen Befunden noch so etwas wie eine Top-Down-Kontrolle, also die Einwirkung von bewusst gewählten Intentionen auf die unbewusst ablaufenden Selektions- und Festlegungsmechanismen? Können wir uns z.B. „echt“ entscheiden, Gewohnheiten, die wir nicht mehr haben wollen, zu beenden und stattdessen andere Verhaltensweisen zu wählen? Liegt es in unserer Macht, mit dem Schokonaschen oder Fernsehgewohnheiten aufzuhören oder geht das nur, wenn unser Unterbewusstsein das schon längst so entschieden hat, ohne dass wir wissen können, wie wir diese Disposition in unseren Tiefen herstellen können?

Wir alle kennen zweierlei Erfahrungen: Einmal, dass es schwer ist, alte und liebgewonnene Gewohnheiten zu ändern, auch wenn wir diese Liebesbeziehung unbedingt beenden wollen, und zum anderen, dass es doch gelingt, mit dem Rauchen, Kaffeetrinken oder Computerspielen aufzuhören, manchmal in Etappen, manchmal auf einen Schlag. Wir können auch auf Erfolge der Selbstüberwindung zurückblicken – vielleicht wollten wir um keinen Preis in die Schule gehen und haben es dann doch viele Jahre lang ausgehalten; vielleicht hatten wir Angst vor dem Wasser und können jetzt mit Begeisterung schwimmen; vielleicht konnten wir uns nie vorstellen, jeden Tag zu meditieren und missen es jetzt, wenn wir einmal wirklich keine Zeit finden. Wir haben immer wieder mal einen inneren Schweinehund überwunden, und zu anderen Zeiten war es partout nicht möglich. Wir können genügend Beispiele aus unserem Leben aufzählen, die davon zeugen (und uns selber überzeugen), dass unser Wille unser Leben steuert, je nachdem, ob er stark oder schwach ist.

Gibt es dennoch so etwas wie Selbstbeeinflussung?


Wären wir unserem Unterbewusstsein gegenüber machtlos, hätten alle Appelle an Selbstverantwortung, Ich-Stärkung, Zusammenreißen usw. keinen Sinn. Die Prediger der Willensstärkung und der Manifestation aller Wünsche mit der Kraft des Wollens würden nur leere Floskel verbreiten und illusionäre Versprechen verkaufen. Joe Dispenza z.B. schreibt: „Zwei unserer besonders einzigartigen menschlichen Leistungen sind, dass wir über die Fähigkeit von Selbstreflexion und Willensfreiheit verfügen.“ Alles, was dieser Seminarleiter, der mit Gruppen von über 1000 Leuten arbeitet, schreibt und anbietet, beruht auf der Annahme, dass wir in der Lage sind, mittels unseres Bewusstseins unsere inneren Abläufe in eine von uns gewünschte Richtung zu lenken.

Was hätte auch psychotherapeutisches Arbeiten für einen Sinn? Wozu sollte ein Ich gestärkt werden, damit es Gefühle meistern und das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten kann? Schließlich wären es ja doch die Kräfte des Unbewussten, die Regie führen, gleich was das Ich sich einbildet. Dennoch zeigen viele Beispiele aus der praktischen Arbeit mit Klienten, wie sie mehr und mehr das Gefühl bekommen, ihr Leben selber, unabhängig von Prägungen und Ängsten, führen können. Sie können sich von Zwängen befreien und innere Blockaden überwinden.

All diese Beispiele setzen offensichtlich voraus, dass es eine effektive Kontrolle von oben, von den bewussten exekutiven Funktionen der Großhirnrinde, nach unten, in die limbischen Gefühlsregionen geben muss. Es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass durch Übungen in dieser Form der Einflussnahme die entsprechenden Vermittlungszentren im Gehirn nachhaltig gestärkt werden, während z.B. die Angstspeicher im limbischen System geschwächt und verkleinert werden. Es gibt die einfachen Messungen mit dem Autogenen Training, die belegen, dass der selbstsuggestive Satz: „Der rechte Arm ist schwer“ den Muskeltonus in diesem Arm verändert. Es gibt zahllose Belege dafür, dass langsames und regelmäßiges Atmen, das vom Bewusstsein gesteuert wird, die Herzschlagvariabilität verbessert usw.

Allerdings, so werden die Vertreter der erörterten Theorie einwenden, benötigen wir für alle Impulse zur Verhaltensänderung entsprechende neuronale Voraussetzungen – Hormone, Botenstoffe, Dispositionen unseres vegetativen Nervensystems usw., die alle einer unbewussten Steuerung und Verwaltung unterliegen.

Dreht sich hier die Argumentation im Kreis? Handelt es sich um ein Henne-Ei-Problem? Oder lesen die Forscher einer Richtung nichts von den Forschern der anderen Richtung? Wie können wir die Forschungen auf der einen Seite verbinden mit denen, die gegenläufige Beweise aufstellen? Und wie können wir all diese Erkenntnisse mit unserer Lebenspraxis verbinden? Dazu mehr im nächsten Blog.


Zum Weiterlesen:
Erzeugen wir unsere Gedanken?
Geistwanderung und mentale Autonomie

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