Dienstag, 21. November 2017

Polaritäten lähmen, Kontinuen befreien

Wie schon ausführlicher in einem früheren Artikel dargestellt, sind Polaritäten mentale Konstrukte, die in der Realität keine Entsprechung haben. Es sind also Versuche unseres Verstandes, die Vielfalt der Wirklichkeit in überschaubare Ordnungen zu bringen. Deshalb suchen wir Polaritäten, die es uns erleichtern, Phänomene zuzuordnen, wie wir am Computer ähnliche Dateien einem gemeinsamen Ordner hinzufügen. So verfügen wir über Ordner für die Guten und die Bösen, für Schönes und für Hässliches usw.

Je mehr wir uns jedoch in unserer Erfahrung auf die Wirklichkeit einlassen, desto deutlicher erleben wir, dass es Prozesse mit graudellen Veränderungen gibt und keine polaren Sprünge. Wir erleben, wie der Tag in die Nacht übergeht, statt den Gegensatz von Tag und Nacht, wir nehmen wahr, wie Stille in Lärm und Lärm in Stille übergeht (im Außen wie in unserem Kopf), wir erfahren das langsame Ansteigen und Zurückgehen der Temperatur im Lauf eines Tages statt eines abrupten Wechsels usw.

Wir haben zum Beispiel in unserem Denken polare Kategorien für das Gute und das Böse, und es fallen uns schnell Beispiele für Individuen ein, die in den einen oder den anderen Topf gehören. Aber wenn wir auch in diese Bereiche genauer hinschauen, erkennen wir, dass es hier ebenfalls keine Eindeutigkeiten gibt. Die vermeintlich durch und durch böse Person zeigt da oder dort einen Zug von Menschlichkeit. Die andere Person, die so viele gute Charakteristika aufweist und so viele Wohltaten getan hat, ist auch nicht vollkommen in ihrem Gutsein. Von uns selber kennen wir, wenn wir ehrlich sind, mehr Kontinuitäten zwischen guten und weniger guten Aktionen als dass wir rein Gutes und rein Böses tun.


Wenn wir uns die Polarität zwischen schön und hässlich vergegenwärtigen, kommen wir mit unserer näheren Erfahrung wieder in Schwierigkeiten. Wir haben unsere vorgefertigten Schablonen, die wir nutzen, um uns auf Schönes zu fokussieren und Hässliches auszublenden, auch was Menschen anbetrifft. Hier entscheidet ein erster flüchtiger Eindruck. Sobald wir uns näher mit einer Person beschäftigen, wird uns deutlich, dass es neben der äußeren auch eine innere Schönheit gibt und dass diese wichtiger ist als das Aussehen. Je mehr wir jemanden kennen lernen, desto mehr Variable entdecken wir, und desto unwichtiger werden polare Zuschreibungen. Die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit zeigt uns den Reichtum der Unterschiede und Nuancen, in dem das Fließen der Erscheinungen sichtbar und spürbar ist, auf das wir uns einlassen können. Die Kunst könnte gerade darin liegen, in allem, was es gibt, eine besondere Schönheit zu finden.

Mann-Frau – eine Polarität?


Auch in Hinblick auf die Geschlechter-„Dichotomie“ stellen sich Fragezeichen. Natürlich gibt es Männer und Frauen, doch lehrt uns die Gender-Debatte, dass die Unterschiede fließend sind und dass wir sie auch fließend halten sollten. In früheren vorindustriellen Zeiten (mit patriarchalen Strukturen) hat eine rigide Rollenteilung klare polare Verhältnisse begünstigt. Als Folge der sozio-ökonomischen Veränderungen in den letzten Jahrhunderten sind allerdings immer mehr Gründe für geschlechterspezifische Berufe und Beschäftigungen weggefallen. Fast alle Tätigkeiten in unserer Gesellschaft können gleichermaßen von Männern wie von Frauen ausgeübt werden, die Qualität der Arbeit hängt nicht vom Geschlecht, sondern von den individuellen Fähigkeiten und der Ausbildung ab. Es scheint sogar, dass durch die Fortschritte in der Robotik vor allem traditionelle Männerberufe verschwinden werden; die meisten Tätigkeiten, die eine besondere Kraftanstrengung benötigen, können durch Maschinen ersetzt werden. Tätigkeiten, die eher der weibliche „Natur“ zugeordnet wurden – alle sozialen Berufe, wo also Menschen mit Menschen zu tun haben, sind durch Maschinen grundsätzlich nicht ersetzbar. Hier werden sich vermutlich in Zukunft die Männer mehr engagieren.

Nun, wenn schon nicht im Gender-Bereich, so gibt es doch in Hinblick auf den Sex eindeutige Unterschiede, und die Polarität von Männern und Frauen kann gerade da nicht aufgehoben werden, so lautet das nächste Argument. Unbestritten mag bleiben, dass Männer und Frauen in ihrer unterschiedlichen Ausstattung mit Fortpflanzungsorganen für die menschliche Reproduktion notwendig sind, bzw. der naturgemäßesten Form der Fortpflanzung dienen. Doch gibt es schon länger die verschiedenen Methoden der Reproduktionsmedizin, die neue Szenarien für die Weitergabe des Lebens jenseits der Sex-Polarität erlaubt. Für die künstliche Befruchtung sind zwar Spermien, aber nicht mehr bestimmte Männer erforderlich. Dazu kommen die Diskussionen um das „Dritte Geschlecht“, die zur Zeit gerade in die europäischen Öffentlichkeiten gelangen – es geht um Personen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Ihre Anliegen verweisen darauf, dass es ein Übergangsfeld zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen gibt, das offenbar von der Natur so vorgesehen ist, in ihrem Bestreben nach größtmöglicher Variabilität.

Polarität im Beziehungskampf


Die Dynamik der Zweierbeziehung, der nach wie vor prädominante Modell des Zusammenlebens, kann als pulsierendes System verstanden werden. Auf Phasen der Anziehung folgen meist Phasen des Auseinanderdriftens. Kommt es zum Streit, so ziehen sich die Partner auf die Extrempositionen zurück, in denen sie sich sicher fühlen und ihre Kräfte sammeln können – die Mitte des Begegnungsfeldes bleibt leer. Dadurch steigt die Spannung, die mehr und mehr unüberbrückbar werden kann, je stärker sich jeder in der eigenen Sicherungsposition verschanzt. Die emotionale Festung kann im physischen Rückzug bestehen oder in angriffslustiger Aggression aus den Schießscharten der eigenen Trutzburg heraus.

Typisch für solche Situationen ist der Aufbau und Ausbau von Projektionen. Statt die Distanz zu nutzen, um mehr zu sich selber zu finden, wird das Bedrohliche und Feindliche an der anderen Person besonders aufgebauscht. Auch deren Anderssein wird verschärft akzentuiert wahrgenommen, und aus dem Gedächtnis werden vorwiegend schlechte Erfahrungen aufgerufen. Im Extremfall wird der Sinn der Beziehung in Frage gestellt und ein weiterer gemeinsamer Weg bezweifelt. Die Polarisierung dient dem Selbstschutz und steht im Zeichen von tiefsitzenden Ängsten.

Denn der Beziehungsstreit ist ein Stellvertreterkampf. Es werden Szenarien aus den frühen Kindheitsphasen wachgerufen, in denen es zu Polarisierungen gekommen ist, z.B. durch Trennungserfahrungen von den Eltern oder im Zug von deren Streitigkeiten. All die damals erlebten Ängste werden spürbar, und dementsprechend werden die Schutzmechanismen hochgefahren und mit der Macht aller Emotionen verteidigt.


Erst wenn die Erkenntnis dämmert, dass die wirklich bedrohlichen Situationen schon längst überlebt sind und dass in der Gegenwart genügend Ressourcen zuhanden sind, um Auseinandersetzungen zu bewältigen, wird die Absurdität der Polarisierung deutlich. Die Sicherungszonen können verlassen werden, und im achtsamen Aufeinander-Zugehen wird die Beziehungsmitte mit Leben erfüllt. 

Polaritäten erkunden


Wenn wir uns bewusst auf die Erkundung von Polaritäten einlassen, indem wir z.B. wir mit Schnelligkeit und Langsamkeit experimentieren, erweitern wir unseren Möglichkeitsspielraum. Zugleich verstehen wir Menschen besser, die unser gegenteiliges Muster aufweisen: Als schneller agierende Menschen verstehen wir den Wert der Langsamkeit und umgekehrt. Wir gewinnen an Flexibilität, d.h. wir können leichter unser Muster ändern, und bekommen zugleich ein besseres Gefühl für die Mitte zwischen den Extremen.

Ein weiteres Beispiel ist die Erweiterung der Polarität zwischen warm und kalt. Vor hundert Jahren galt in unseren Breiten eine Zimmertemperatur von 14 Grad als optimal, und die Heizungssysteme waren danach ausgerichtet. Heute brauchen die Menschen eine Durchschnittstemperatur von 22 Grad (Tendenz steigend), um sich wohlzufühlen. Offenbar hat sich unser Wohlfühlbereich von kühler zu wärmer verschoben oder der Toleranzbereich (vielleicht auf Grund der noch unbeschränkt zur Verfügung stehenden Heizenergie) reduziert. Unsere Temperaturtoleranz ist wegen fehlender Herausforderungen durch bequemere Heizsysteme geschrumpft.

Wir können dieser Tendenz bewusst entgegensteuern, indem wir uns auf die Erfahrung von Kälte einlassen (vielleicht brauchen wir gar nicht die dickste Daunenjacke, wenn es draußen 5 Grad hat; vielleicht macht es auch Spaß, bloßfüßig durch den Schnee zu laufen; vielleicht kann sich eine kalte Dusche nach dem ersten Schock angenehm und belebend anfühlen). Mit solchen Übungen erweitern wir nicht nur unseren Toleranzbereich, sondern stärken auch die Fähigkeit unseres Organismus, mit Kältebedingungen besser umgehen zu können.

Schulung der Flexibilität


Durch Erfahrungen mit der bewussten Erkundung von Polaritäten lösen wir uns von den mentalen Konstrukten, die dahinter stehen. Polaritäten haben die Tendenz uns zu lähmen. Wir stecken in einer Alternative von Entweder-Oder fest. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, in unserem Erleben wie in unserem Wahrnehmen. Bei beiden Extreme steht das Denken über der Wirklichkeitserfahrung.

Wenn wir Polaritäten in Kontinuen umwandeln, gewinnen wir an Freiheit. Wir wandeln sie in lebendige Prozesse um und nähern uns der Wirklichkeit in der Erfahrung an. Dabei durchbrechen wir Gewohnheiten, lockern eingespeicherte Programme und gehen über konditionierte Grenzen hinaus. Wir dehnen uns über die Endpunkte einer imaginierten und selbstgesetzten Polarität hinaus. Wir beweisen uns, dass wir mehr sind und vermögen als wir es gewohnt sind. Wir schulen unsere Flexibilität. Wir wandeln starre Polaritäten in fließende Kontinuen um, die sich in jede Richtung erweitern können. Wir stärken Kompetenzen, die uns in allen Lebensbereichen gute Dienste leisten können.

Zum Weiterlesen:
Polaritäten - Ursprünge und Folgen
Liebe und Hass - eine Polarität?
Das Gute und das Böse
All-Erfahrung und Nicht-Dualität

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