Donnerstag, 10. November 2016

Krise der Liberalität?

Die USA haben gewählt, und für viele Menschen, die sich mit innerer Entwicklung beschäftigen, löst das Ergebnis das blanke Entsetzen aus. Es wurde ein Mensch als Präsident gewählt, der keine Gelegenheit ausgelassen hat, sich als Gegner von Liberalität, Menschenrechten (einschließlich Frauenrechten), persönlicher Moral und Fortschritt zu inszenieren. Dass diese Mischung bei so vielen amerikanischen Bürgern Anklang gefunden hat, erstaunt alle, die ein Bild von den USA haben, das mit Modernität, Emanzipation, technologische Entwicklung, freundlichen und weltoffenen Menschen assoziiert ist – das Bild, das die meisten Medien in den Zeiten des Wahlkampfes verbreitet haben, wo z.B. in der New York Times die dunklen Geschäfte des neuen Präsidenten und seine abwertenden Kommentare zu den verschiedensten Menschengruppen für jeden lesbar aufbereitet wurden.

Dennoch hat Donald Trump die Mehrheit der Wahlmännerstimmen bekommen (nicht die Mehrheit der Wähler). Aber immerhin haben ihn 42% der Frauen (die zur Wahl gegangen sind) gewählt, die offenbar nichts daran finden, einen Präsidenten zu haben, der seine eigenen frauenfeindlichen Einstellungen lustig findet. 29% der Latinos haben ihm die Stimme gegeben, obwohl er sie im Wahlkampf beleidigt, herabgesetzt und bedroht hat. Nur die Schwarzen, soweit sie überhaupt gewählt haben, haben sich geweigert, ihren eigenen Gegner mit der höchsten Macht im Staat auszustatten, nur 9% für Trump in dieser Wählergruppe.

Wir wundern uns: Leute, die vom sozialen Abstieg bedroht sind oder ihn schon aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen erlebt haben, wählen einen Multimilliadär, der keinerlei soziale Neigungen aufweist, sondern zeit seines Lebens an der Mehrung des eigenen Vermögens unter Ausnutzung aller Schlupflöcher des Steuersystems zu arbeiten. Trump hat ja immer betont, wie viel er seinem Vater verdankt, dessen dreiste und menschenverachtende Gaunereien in die Folkmusik Eingang gefunden haben.

Offensichtlich ist dieses Ereignis ein Schlag ins Gesicht der Bewusstseinsevolution. Ein Präsident tritt ab, der zumindest eine Ahnung vom systemischen Denken hat und mit vielen ambitionierten Ideen an der politischen Wirklichkeit gescheitert ist, ein Mann, der intelligent reden und argumentieren kann, der zuhören und andere Meinungen verstehen kann. Ein neuer Präsident tritt auf, dessen soziale Intelligenz offensichtlich weit unterhalb dieses Niveaus angesiedelt ist und der keinen Blick jenseits des brutalen materialistischen Bewusstseins wagt, der das machtgierige emanzipatorische Ego-Denken voll aufgesogen hat und nach diesen Maßstäben das Land und den Staat umkrempeln will. Also ein Rückfall auf frühere, schon längst überwunden geglaubte Entwicklungsstufen?

Ich denke, dieses Ereignis macht uns darauf aufmerksam, wie langsam und gewunden die Entwicklung verläuft. Menschen werden immer wieder von Ängsten geleitet, deren Herkunft sie nicht kennen und auch nicht kennen wollen. Sie suchen die Rettung bei jemandem, der scheinbar die Ängste überwinden kann und vorzeigt, wie viel man dadurch gewinnen kann. Wir leben in einem Umfeld, in dem Menschen daran interessiert sind, sich innerlich weiter zu entwickeln, und wir nehmen deshalb an, dass das für alle anderen auch so ist. 


Tatsächlich, und das zeigt auch diese Wahl, sehen wir nur einen winzigen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit und schließen aus unserem Mikrokosmos auf das große Ganze. Die Gesellschaft ist also noch lange nicht so weit, den Mut aufzubringen, den es erfordert, sich den Ängsten zu stellen, für die eigenen Gefühle und Einstellungen Verantwortung zu übernehmen und Mitmenschlichkeit und Respekt vor den Egoismus zu stellen. Zwar scheint es einfacher, die Lösung der eigenen Schwierigkeiten von einem politischen Zampano zu erwarten, als selber die Ärmel aufzukrempeln, aber das Lernen ist unausweichlich und die Enttäuschung folgt, sobald deutlich wird, dass ein neuer Präsident keine Zauberfee ist, die über alle das Glückshorn ausschüttet. Die Magie ist schnell verpulvert, und der Blick nach innen unausweichlich. Wir können ihn immer wieder hinausschieben, bis wir erkennen, dass das den Preis erhöht und wir besser daran tun, wie wir über unsere Beschränkungen hinaus wachsen können.

So, wie wir selber immer wieder mit unseren Entwicklungsprozessen, die uns das Leben präsentiert, ringen, stellt sich das Szenario im Ganzen vor. Auch wenn bei der Wahl die demokratische Kandidatin gewonnen hätte, ist diese Arbeit zu leisten, und das braucht die Zeit, die es braucht. Weltoffene Führungsfiguren, die über den Rand des eigenen Egos hinausblicken können, geben Vertrauen und Zuversicht für solche Schritte; Führungsfiguren, die das Gegenteil zelebrieren, bleiben das schuldig und richten häufig zusätzlichen Schaden an. So sehr wir das bedauern, so sehr müssen wir uns eingestehen, dass es letztlich geschehen muss, damit über solche Umwege schließlich die Weiterentwicklung ihre Bahn findet. Wir müssen unsere Erwartungen immer wieder an die Realität anpassen und den Blick vom Kleinen zum Größeren, vom Aktuellen zum Weitgespannten öffnen.

Es befindet sich also nicht die Liberalität in der Krise, bloß weil ein Illiberaler US-Präsident ist. Vielmehr zeigt sich das Ausmaß der Herausforderung: Wieviel Aufklärungsarbeit noch notwendig ist, um die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen, wie das Immanuel Kant im 18. Jahrhundert formuliert hat. Tatsächlich kann dieses Ereignis einen Schub in dieser Richtung auslösen, und möglicherweise geht die Person des Präsidenten gegenüber den Bewegungen, die aus der Kreativität des Freiheitsdrangs entstehen, in der nachträglichen Geschichtsbetrachtung unter.

Und: Wir Österreicher haben am 4. Dezember die Chance, ein Zeichen für Weltoffenheit und Menschlichkeit gegen Angstmacherei und Vorurteilsprägungen zu setzen. Nachdem bei der Brexit-Abstimmung und der US-Wahl Demagogen und Populisten erfolgreich waren, können wir für eine Trendwende sorgen! Engagieren wir uns für die Wahlbewegung von Alexander van der Bellen!!!


Vgl. Arroganz - der Schatten der Liberalen
Obama und Osama
Snowden und die amerikanische Freiheit
Postfaktualität

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