Donnerstag, 16. Juni 2016

Das kleine Fenster des Nationalismus

Neulich erzählte mir eine „Ungarin“ von ihren genealogischen Forschungen. Sie hat Vorfahren aus Polen, Russland, Türkei und Armenien, und der Familienname ihrer Mutter soll aus dem Himalaya-Gebiet abstammen, ohne dass es ein Wissen darüber gibt, wie er nach Europa gelangt ist.

Das wird für die meisten Menschen gelten: Wenn sie in ihre Vergangenheit auf ihre Abstammungslinien schauen, wird deutlich werden, dass die unterschiedlichsten Wurzeln zusammen ihre heutige Person ergeben. Die Nationalität, die wir aufgrund der letzten Entwicklungen für uns behaupten, gibt davon nur einen winzig kleinen, recht willkürlich ausgewählten Ausschnitt wieder. 


Die Nationalität ist also nicht mehr als eine Selbstbehauptung. Aus der Fülle der historischen Fäden, die sich in der eigenen Person überkreuzen, wird ein Strang herausgezogen und mit einem Glorienschein umgeben. Das bildet die Grundlage für eine Zugehörigkeit, auf die man stolz sein kann und die man zur Abwertung anderer Nationen benutzen kann. Sie wird in die eigene Identität eingebaut und mit deftigen Emotionen versetzt: Du bist mein Heimatland, dir bin ich treu. Im Extremfall fordert das Heimatland die Treue ein und versteht darunter, für es das eigene Leben zu geben. Das ist der Moment, den wir immer wieder beobachten können, in dem die Nationalität zur Bestie wird.


Nationalismus im Zeitfenster


Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt - einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Gemeinschaften, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.


Die Heimat und die DNA


Richtig gruselig oder aufregend wird es erst, wenn wir einen Blick in die DNA werfen, in der die Spuren unserer Herkunft ablesbar sind.

Als Illustration ein Video: Man sieht man Personen, die voller Stolz von ihren Herkunftsländern schwärmen und Vorurteile gegen andere Länder hegen. Dann kriegen sie das Resultat über die Herkunft ihrer DNA, und als sie erkennen, dass sie eine Mischkulanz aus verschiedensten Völkerschaften sind, dass ihre Vorfahren die unterschiedlichsten Sprachen gesprochen und in allen möglichen Teilen dieser Welt gelebt haben, passiert ein Aha-Erlebnis: Ich bin viel mehr als diese Nation, die ich mein Eigen genannt habe und mit der ich mich so stark identifiziert habe. Ich habe viel mehr Identitäten als nur eine, und ich habe viel mehr gemeinsam mit jenen, die ich mit Misstrauen oder Überheblichkeit ablehne.

Genetiker haben festgestellt, dass es hohe Grade an Verwandtschaft der Menschen untereinander gibt. Die "brotherhood of man", von der John Lennon singt, ist also keine visionäre Träumerei, sondern umschreibt eine genetische Realität. Weitschichtig betrachtet, können wir unter den Menschen keine wirklich Fremden finden, sondern nur entferntere Verwandte. Der finnische Genetiker Svante Pääbo beschreibt in einem Interview als wichtigste Einsicht seines Faches, „dass die genetischen Unterschiede zwischen uns alles andere als tiefgreifend sind.“


Erkenntnis macht frei


Erkenntnis entkoppelt, und Entkoppelung macht frei. Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, mit etwas in uns in Beziehung zu treten, das wir vorher gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen.

Dann können wir das Gemeinsame im Fremden erkennen und über das Trennende stellen. Wo wir Verbindung erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.


Vgl. "Helden"
Mitgefühl hat keine Grenzen

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