Sonntag, 8. November 2015

Wer bin ich - bin ich wer?

Die Frage nach der Identität richtet sich nicht darauf, ob und wie ich existiere, das wäre eben die Frage nach der Existenz. Diese kann ich dadurch beantworten, dass ich mich spüre und erlebe. Dadurch weiß ich, dass und wie ich existiere. Die Frage nach der Identität richtet sich auf das Wie dieser Existenz, also welche Form oder Qualität diese Existenz hat.

Wenn wir nach diesem Wie fragen, stoßen wir gleich auf viele verschiedene Antworten. Wir sind offenbar eine Ansammlung aller möglicher Identitäten: Wir können uns als Zugehörige zu einer Nation oder einem Staat fühlen, als Bürger einer Stadt oder Gemeinde, als Anhänger einer Musikgruppe oder eines Fußballvereins, als Anhänger oder Gegner einer politischen Partei, Mitglied einer bestimmten Religion usw.

Außerdem ist klar: Meine Identität und meine Identitäten haben jeweils eine innere und eine äußere Komponente: Wie ich mich selbst erlebe und wie mich andere erleben. Ich kann mir selber eine bestimmte Identität zusprechen, die andere von außen gar nicht wahrnehmen, oder umgekehrt, andere sprechen mir eine Identität zu, die gar nicht meine ist.

Da sich das Wie unseres Existierens in der Zeit verändert, unterliegt unsere Identität einem Wandel. Wir fühlen uns anders als noch vor zehn Jahren oder als in unserer Kindheit. Bestimmte Teil-Identitäten verschwinden mit der Zeit, z.B. jene als Schüler, andere verändern sich, andere kommen neu dazu. Das, was wir unter unserer eigenen Identität verstehen, ist keine feststehende Größe, sondern eher ein Rahmen für eine große Spielwiese, auf der sich die unterschiedlichsten Identitäten tummeln, von denen sich mal die eine, mal die andere vordrängt und unser Selbstgefühl dirigiert.

Sie sind wie Kleider im Kleiderschrank, aus dem wir mal das eine, mal das andere Kleidungsstück nehmen und damit unsere äußere Erscheinung und unser Selbstgefühl mehr in die eine oder andere Richtung stylen. Wie alles Dingliche, vergehen Kleider mit der Zeit, indem sie uns nicht mehr gefallen oder indem sie schadhaft werden. Ähnlich vergehen unsere Identitäten.

Wenn wir auf die Suche nach innen gehen, verstehen wir das als Suche nach uns selbst, danach, „wer wir wirklich sind“. Wir merken, dass wir nicht eine unserer Identitäten sein können, weil wir dann andere vernachlässigen würden. Wir merken auch, dass wir nicht die Summe der Identitäten sind, weil ein Kleiderschrank weniger interessant ist als die Kleider, die er enthält.

Irgendwann dämmert uns, dass wir das Ziel unserer Suche nicht in einer unserer Identitäten und auch nicht in unserer Gesamtidentität finden können. Da das alles wandelbar und vergänglich ist, kann es nicht einmal unsere Sehnsucht nach Sicherheit befriedigen. Es dient also nicht dazu, unsere tiefste Angst zu beruhigen, denn wir nutzen unsere Identität genau dafür, diese Angst nicht spüren zu müssen. Sie dient wie ein Rettungsanker, wenn alles andere in Gefahr ist, sich aufzulösen. Mit unserer Identität wollen wir etwas Beständiges in den Strom der Veränderungen einbauen, merken aber, dass wir nur Sand haben, auf dem wir bauen können.

Wenn wir bei dieser Ahnung angekommen sind, bleibt uns nur die Alternative, uns sicherheitshalber an eine Identität anzuklammern oder unsere Identität radikal preiszugeben. Damit erkennen wir an, dass unsere Identität als ganze und alle ihre Teile Konstrukte sind, die im Kern der Angstbewältigung dienen, der Angst vor der eigenen Auslöschung. Wenn wir den Schritt in die Unsicherheit wagen, erkennen wir, dass wir die Angst, die da auftaucht, aushalten können. Mit dieser Erfahrung wird uns klar, dass wir keine Identität mehr brauchen. Weiterhin werden wir in unserem Leben mit dieser oder jener Identität auftreten, aber wir sind nicht mehr mit ihr identifiziert. Wir wissen, dass wir nicht so oder so sind, nicht aus diesen oder jenen Qualitäten oder Wertprioritäten bestehen, sondern dass hinter all dem Theater der Rollenspieler ein großer leerer Raum auftaucht, indem wir uns unendlich frei fühlen können.


Vgl.: Identität von Geist und Körper
Die sexuelle Identität
Des Pudels Kern: Über das Auflösen von Identitäten
Die Verdinglichungstendenz: Über das Dingliche an Identitäten

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