Dienstag, 24. November 2015

Die große und die kleine Liebe

Jede Liebe hat beides: eine persönliche und eine überpersönliche Qualität. Die persönliche ist geprägt von der eigenen Lebensgeschichte und enthält alle Konzepte, Sehnsüchte und Verengungen, die aus den Erfahrungen stammen, die wir im Lauf unseres Lebens eingesammelt haben. Die persönliche Liebe ist gewissermaßen der Eintopf aus all diesen Erfahrungen, die Quintessenz, einschließlich aller Verletzungen und Öffnungen. Die persönliche Liebe will wachsen, weil sie weiß, dass sie nicht vollkommen ist, dass sie also das volle Potenzial, das ihr innewohnt, noch nicht entfaltet hat. Wir können sie auch die kleine Liebe nennen, die in sich die Kraft und Bestrebung hat, zur großen Liebe zu werden. Sie ist allerdings auch anfällig für alle Störungen und Irritationen, die aus den Verletzungen kommen, die sie schon erlitten hat.

Die überpersönliche Liebe ist, wie sie ist, sie weiß, dass sie in allem ist, was es gibt. Sie braucht nicht in ihrer Qualität zu wachsen, weil diese schon alles umfasst. Sie weiß aber auch, dass sie sich mehr und mehr ausbreiten muss, wenn diese Welt in Bewusstheit und Menschlichkeit wachsen soll. Sie kommuniziert mit all den persönlichen Liebesgeschichten, die sich zu ihr hin entwickeln wollen. Sie übt die Anziehungskraft aus, die die liebesfähigen Personen immer wieder anregt, in ihrer Liebe weiterzuwachsen, aus den Untiefen in die Tiefe, aus der Kleinlichkeit in die Größe zu gehen.


Die Liebe ohne Mitgefühl


Die Wiener Psychotherapeutin Christl Lieben hat mit ihrer Eingebung von der "Liebe ohne Mitgefühl" einen eigenen Zugang zu dieser überpersönlichen Liebe geöffnet. Sie beschreibt diese Liebe als unsentimental, neutral, klar und selbstverständlich. Sie ist nicht etwas, das eigens errungen und erkämpft werden muss, weil sie immer da ist. Sie ist aber nicht in der Weise eines Dinges da, das man einfach nehmen könnte wie eine Blume am Wegrand, sondern als eine Kraft, die im Inneren von allem wirksam ist, sich aber nur der Person erschließt, die bereit ist oder fähig ist, sich selbst aufzugeben, also die Identifikation mit dem Ego aufzulösen.

Dann wird diese besondere Qualität der Liebe erfahrbar, befreit vom Drama und von den Gefühlsstürmen, Leidenschaften und Enttäuschungen, allen Anhaftungen entrückt. Dabei wird sie eine andere Spielart des inneren Friedens oder der inneren Freiheit. Es ist “die Liebe, die aus der Leere kommt". 


Was heißt es, in der Liebe anzuhaften? In der buddhistischen Lehre gelten ja die Anhaftungen als die Bestrebungen des Egos, an etwas festzuhalten, von dem es gerne hätte, dass es anders ist als es ist. Es sind die Illusionen und Wunschvorstellungen, die das Ego über die Wirklichkeit drüberlegt. Sie wirken wie ein Schleier, aus dem das Ego  seine Erwartungen und Enttäuschungen bastelt, seine Engstellen und seine Durchbrüche.

Wo wir anhaften, machen wir etwas Fließendes zu einem Ding, zu etwas, das wir festhalten wollen, um es am Weggehen zu hindern, oder zu etwas, das wir loswerden wollen, indem wir es vernichten, statt zu warten, bis es von selber wegfließt. Wo immer wir unsere Vorstellungen und Ideen dem vorordnen, was das Leben von sich aus schafft und wieder vergehen lässt, haften wir an. Wo immer wir anhaften, werden wir unbeweglich.

Auch der Ausdruck der Verstrickung passt hier, wir sind gefesselt von den Fäden, mit denen wir uns an die Dinge und verdinglichten Gedanken gebunden haben. Diese Fäden sind aus unseren Ängsten gesponnen, und sie verkleben uns mit den Vorstellungen und Konzepten, die diese Ängste bannen sollen.

Deshalb muss die persönliche Liebe immer wieder kämpfen. Im Grund gilt dieser Liebeskampf der Befreiung aus den Fesseln, in die sie das Ego manövriert hat. Denn das Ego versucht permanent, sich die Liebe zu sichern, die aber bekanntlich ein Kind der Freiheit ist und sich nicht festnageln lässt. Gerade wo der Liebe Gewalt angetan wird, indem wir sie unseren persönlichen Zwecksetzung und Ängsten unterordnen wollen, verschwindet sie. Sie lässt sich nicht einsperren, weil sie nicht klein bleiben will. Jede Liebe will wachsen in ihre größtmögliche Form hinein.

Die Idee der Liebe ohne Mitgefühl weist darauf hin, dass die große Liebe nichts für den anderen wollen kann. Sie lässt alles so sein und so werden, wie es sein und werden will. Wann immer wir uns für eine andere Person wünschen, dass etwas so oder so werden soll, mischen wir uns ein in das Leben, das von sich aus entwickelt, was dran ist.

Wenn jemand krank ist, wünschen wir ihm, dass er wieder gesund wird, das sagt uns unser Mitgefühl. Wir sehen, wie er an der Krankheit leidet und wollen, dass dieses Leiden möglichst bald zu Ende geht. Wir fühlen uns sehr liebevoll, wenn wir dieses Mitgefühl in uns wahrnehmen. Folgen wir jedoch der Idee der Liebe ohne Mitgefühl, so erkennen wir, dass sich in unsere wohlgemeinten Wünsche das Wollen unseres Egos eingemischt hat. Denn wir (d.h. unsere Egos) wollen, dass sich unsere Vorstellung von Stimmigkeit und Glück in der Wirklichkeit durchsetzt. Wir kommen nicht damit zurecht, dass die andere Person leidet, weil uns dieses Leiden an unsere eigene Endlichkeit und den damit verknüpften Ängsten erinnert.

Der Prüfstein ist, sobald nicht eintritt, was wir uns und den anderen wünschen: Jemand wird nicht gesund, sondern kränker und kränker, es geht ihm schlechter und schlechter - können wir dann noch im n der Liebe bleiben, in der großen Liebe, die alles gutheißt, was ist und daran nichts ändern will? Vielleicht merken wir an diesem Punkt, dass sich eine Angst in unser Mitgefühl eingemischt hat: Was ist, wenn die Person gar nicht mehr gesund wird, sondern wenn sie gar sterben muss? Vielleicht erkennen wir, dass uns das mit unserer eigenen Todesangst konfrontiert: Der Angst, die uns vor die Tatsache stellt, dass wir selber eines Tages in der Situation sind, dass es uns schlechter und schlechter geht, bis wir sterben müssen.

Damit wir diese Angst nicht spüren müssen, mobilisieren wir unsere magischen Kräfte, durch das Wünschen des Guten das Schlechte abzuwenden. Das soll unser Mitgefühl leisten.

Wenn wir jedoch hinter dieses Mitgefühl spüren, merken wir, dass in dem scheinbaren ganz Für-den-anderen-Dasein im Mitgefühl unser Ego kräftig mitmischt. Normalerweise fällt uns das gar nicht auf, weil das Mitgefühl so fest in unsere Konventionen hinein verwoben ist. Es wäre ja ganz und gar unhöflich, ja sogar unmenschlich, einer leidenden Person keine Besserung zu wünschen.

Natürlich geht es nicht um das Gegenteil von Mitgefühl, z.B. um die Missgunst, sondern um das Größere und Weitere: Um die überpersönliche Liebe, die immer das Gute in dem sieht, was schon ist, und das Gute wünscht, ohne es zu bestimmen und damit einzugrenzen. Diese Liebe ist also frei von Angst, indem sie weiß, dass alles gut ist, was geschieht, auch wenn es für die Egos der Menschen schrecklich und furchtbar sein kann. 


Die große Liebe in der kleinen


Wenn wir im Raum der überpersönlichen Liebe sind, erkennen wir, dass die große Liebe immer auch in der kleinen ist und sich dort z.B. in der Form des Mitgefühls äußert. Denn sie kann sich in jeder Form ausdrücken, weil sie an keine Form gebunden ist. Sie kann auch sagen: Alles Liebe und alles Gute für dich, voll von einem Mitgefühl, das spürt, wie sehr die andere Person leidet, die also das Leiden der anderen Person fühlt.

Denn jedes Abwehren des Leidens wäre eine Schutzreaktion, die aus unserem ängstlichen Ich kommt. Wer also des Mitgefühls nicht fähig ist, kann gar nicht zur großen Liebe gelangen. Zuerst muss also das Mitgefühl erlernt werden, wenn der Kanal dazu verstopft ist.

Doch ist das angstfreie Mitgefühl offen für alles, was ist und was sein wird. Es legt sich nicht auf Erwartungen fest, sondern ist ganz mit der anderen Person, in diesem Moment des Seins, mit dem, was da gerade ist: Leiden oder Freude oder was auch sonst.

Die andere Person kann dann spüren: Da ist jemand da für mich und mit mir in dem, in dem ich gerade bin. Das macht es leichter zu ertragen, was gerade ist. Wenn jemand da ist, der wünscht, dass es besser wäre als es ist, dann entsteht ein Druck, der die eigene Situation erschwert anstatt sie zu erleichtern. Denn zu dem Ringen mit der Belastung, die bedrängt, kommt noch die Erwartung der anderen Person, mit der ein Auskommen gefunden werden muss.

Das Geheimnis der Liebe ohne Mitgefühl ist also, dass sie die anderen Menschen völlig frei lässt, und in dieser Freiheit gesehen und angenommen zu sein ist ein größeres Geschenk als die konventionelle Form eines Mitgefühls, durch das die eigenen Ängstlichkeiten durchscheinen und auf subtile Weise das Gute, das im Mitgefühl schwingt, schlecht machen. Die liebevolle Zuwendung zum anderen zeigt sich auf einer tieferen Ebene als angstvolle Zuwendung zu sich selbst und zum Leben insgesamt.

Wenn wir in die große, überpersönliche Liebe einsteigen wollen, müssen wir uns von allen Konventionen verabschieden und statt dessen nur die Menschen sehen, mit denen wir gerade beisammen sind, in radikaler Einfachheit, die alles so annimmt, wie es ist, ohne eigene Zutat, ohne Ego, das nach jeweiligem Gutdünken verschönert oder verhässlicht, dazudichtet oder wegschneidet. Die innere Komposition von Antrieben und Strebungen, von Klarheiten und Verwirrung, die sich in jedem Moment neu gestaltet und von einem zum anderen fließt - auf sie ist die große Liebe bezogen, die alles umfassen und in sich halten kann, was sich zeigt.

Die große Liebe kann nur in dem inneren Raum gedeihen, der frei von Angst ist, denn jede Spur von Angst macht sie schon zur kleinen. Die Angst engt immer auf ihre Programmierungen ein, die sich auf unbewusste alte Erfahrungen beziehen, die nichts mit dem momentanen Erleben zu tun haben.

Die  große Liebe lenkt den Fluss der Liebe. Wenn der Fluss unterbrochen wird, und das geschieht durch fortlaufende atmosphärische Störungen, durch Traumatisierungen und andere Lebenskatastrophen, die zu einem schleichenden oder massiven Einfall von Angst führen, dann verwirrt und verirrt sich der Fluss der Liebe. Sie fließt dann z.B. verkehrt, aufwärts statt abwärts, d.h. beispielsweise vom Kind zur Mutter, statt von der Mutter zum Kind. Die verirrte Liebe ist nicht die überpersönliche Liebe, sondern die in Zweck genommene kleine Liebe.

Erst wenn die Hindernisse beiseite geräumt sind, die den Fluss der Liebe pervertieren, kann sie wieder frei fließen, in die Richtung, die stimmt, die natürlich ist. Dabei lösen sich die personalen Bestandteile der Liebe, die sie klein halten, von selber auf, Stück für Stück.

Christl Lieben: Die Liebe kommt aus dem Nichts. Wenn sie uns berührt, nehmen wir Gestalt an. Scorpio-Verlag 2014

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