Donnerstag, 21. Mai 2015

Fluss und Trauma

Ein Modell zum Verständnis von Leben,
Spiritualität und Therapie

Der Inn bei Schärding

Das Leben als Fluss erscheint mir als sehr taugliche Metapher. Leben ist Veränderung in einem variablen, jedoch insgesamt stabilen Rahmen. Es hat eine vorwärts drängende Richtung und beinhaltet Kraft und Vertrauen. Flüsse wachsen im Fließen. Sie bewahren eine Einheit in der Vielheit.

Deshalb können wir sagen, dass das Leben fließt. Es fließt von einer Form in die andere und von einer Generation in die nächste, es fließt in neue Strukturen und Gestalten. Es fließt weiter unterhalb der Probleme und Katastrophen, denen wir ausgesetzt sind,.

Dieser Fluss wird dort unterbrochen, wo die Metapher ihre Kraft verliert, weil etwas passiert, das in ihr keinen Platz hat. Wenn ein Ereignis, das mit dem Fluss daherkommt, so mächtig ist, dass es jede Bewältigungsmöglichkeit überfordert und überwältigt, dann geht die Beziehung zum Fließen des Lebens verloren. Das subjektive Bewusstsein koppelt sich ab davon und katapultiert sich in einen imaginären Raum, in den Raum der Dissoziation.

Plötzlich gibt es zwei Welten: Eine, die verloren wurde, nämlich die des Fließens, und eine neu erschaffene, die als Zuflucht dient. Die Einheit und Verbindung von allem mit allem, wie sie im Fließen kennzeichnend ist, ist verschwunden. Das verängstigte Subjekt hat sich vom bedrohlichen Objekt getrennt und beäugt es misstrauisch. Damit ist das Ego entstanden, das es als seine Aufgabe sieht, die Spaltung aufrecht zu erhalten, weil es meint, in der Trennung, in der Dissoziation Sicherheit zu finden. Alles, was einfach nur fließt, ist ihm verdächtig. Denn einst hat dieses Fließen eine Katastrophe mit sich geführt, die so gefährlich war, dass das Überleben massiv bedroht war. Das könnte immer wieder kommen, die Drohung besteht permanent.

Die Unterbrechung hat sich nur auf der subjektiven Ebene abgespielt, im inneren Erleben der traumatisierten Person; objektiv geht das Leben weiter, wie die Pflanzen nach einem Erdbeben weiterwachsen, während die Menschen ängstlich hadern und verzweifeln. Das Leben verzweifelt nicht, es wächst einfach anders weiter, wenn irgendwo unüberwindliche Hindernisse auftauchen. Die Menschen hingegen können von Katastrophen so nachhaltig betroffen sein, dass sie den Weg zurück zu Fließen nicht mehr finden können oder nie mehr finden wollen. Anzumerken ist hier, dass es weniger die Katastrophen in der nichtmenschlichen Welt sind, die Menschen intensiv und dauerhaft traumatisieren, sondern vor allem Katastrophen, die von Menschen selbst verursacht werden, die also mit dem Beziehungsnetz der Menschen zu tun haben.

Traumatisierungen können sich schwerstens auf das Lebensvertrauen von Menschen auswirken und die innere Selbstbeziehung ebenso wie die Beziehung zu anderen Menschen schwächen. Dennoch geht das ganz ursprüngliche Wissen um das Fließen nie verloren. Dies Ahnung danach nährt die spirituelle Sehnsucht der Menschen, und motiviert zur Suche nach Sinn und nach Einheit.

Lange Zeit haben die Religionen die Wege zurück zur Ganzheit verwaltet (religio=Rückbindung). Sie waren allerdings als Institutionen selber zu stark mit traumatisierenden Erfahrungen verbunden (und haben viele davon verursacht), dass sie die Befreiung untrennbar mit neuen Abhängigkeiten verknüpften, z.B. im alten katholischen Spruch, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt (nulla salus extra ecclesiam). Die mystischen Richtungen, die sich im Lauf der Geschichte der traditionell etablierten Religionen entwickelten (z.B. der Sufismus im Rahmen des Islam), vertraten die Radikalität, die notwendig ist, um diesen Weg zurück zum Fließen gehen zu können, ohne vorher in neuen Wirrnissen hängenzubleiben. Das muss ein Weg sein, der frei von Dogmen und vorgefertigten Regeln ist, weil er für jeden Menschen anders ausschaut.

Das Geschäft der Therapie ähnelt in gewisser Weise den mystischen Strömungen, und viele Mystiker waren und sind auch Therapeuten, und viele Therapeuten fühlen sich zu mystischer Spiritualität hingezogen. Die Therapie zielt darauf, die Unterbrechungen, die im Fließen im Lauf eines Menschenlebens aufgetreten sind, wieder zusammenzubringen, sodass dort, wo sich das Subjekt vom Fließen abgetrennt hat, die Rückkehr ins Fließen wieder möglich wird. Oder, wie in anderem Zusammenhang erläutert, der narrative Duktus, die eigene Lebens-Geschichte, die an einer Stelle durch ein Trauma unterbrochen wurde, sodass dort ein weißer Fleck entstanden ist, wird wiederhergestellt; das verloren gegangene Stück Geschichte in die Erzählung wird herein geholt, sodass diese vervollständigt werden kann. Damit ist die Ganzheit der Vergangenheit dort wiederhergestellt, wo sie vorher auseinander gerissen und fragmentiert war.

Vergangenheit, die in ihren Zusammenhang eingesetzt wurde, kann aus der Gegenwart verabschiedet werden. Die Gegenwart, der Moment, ist die Erfahrung des Fließens. Wenn unsere Aufmerksamkeit nicht mehr ängstlich an die Vergangenheit geheftet ist, weil dort weiße Flecken mit Katastrophen drohen, können wir ganz im Hier und Jetzt sein, mit dem Fließen verbunden oder vielmehr eins mit ihm.

Das Ego, das sich in der Traumaerfahrung als Schutz vor erneuter Traumatisierung gebildet hat, wird mit jeder therapeutischen Traumalösung schwächer. Im gleichen Maß wird die Erfahrung des Fließens wieder zugänglich und als eigentliche Lebenswirklichkeit erkannt. Die illusionäre Welt der Dissoziation, die Welt der angstgesteuerten Gedankenkonstrukte und Gefühlskomplexe wird nicht mehr benötigt. An die Stelle von automatisierten Handlungen im Sinn des abgespaltenen Funktionsmodus tritt das freie Fließen der Kreativität.


Zum Begriff des Fließens (flow) vgl. Mihaly Csikszentmihalyi, Flow: Das Geheimnis des Glücks (Klett-Cotta).

Vgl. Funktions- und Flussmodus
Unterbrochenes unterbrechen
Die erzählte Geschichte und der Moment 
Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung 

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