Freitag, 28. November 2014

Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit

Wenn wir Spekulationen über das Leben nach dem Ende des Lebens verbreiten, sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir damit einer Ego-Produktion Vorschub leisten. Das menschliche Ego ist, wie der Körper, zeitlich begrenzt und weiß um seine Grenzen. Es hat die Tendenz, jede Grenze, die ihm von der Umgebung auferlegt wird, zu überschreiten, im Bestreben, die eigene Beschränktheit zu überschreiten. Wir erkennen den typischen Egoisten daran, dass er die Grenzen anderer Menschen missachtet und die eigenen auf ihre Kosten ausweitet.

Hinter dem Größenstreben des Egos steckt das Wissen um die Begrenztheit, die es schwerfällt zu akzeptieren. Begrenztheit bedeutet etwas Größerem ausgeliefert sein, von ihm abhängig zu sein. Der Tod als dieses Größere muss vom Ego geleugnet werden. Da das Wissen um ihn nicht verleugnet werden kann, wird eine Zusatzkonstruktion ins Spiel gebracht, die seine Wirksamkeit teilweise außer Kraft setzt: Nur der Körper stirbt, die Seele bleibt.


Meister der Dissoziation 


Das Ego ist nach meiner Auffassung ein Ergebnis traumabedingter Dissoziation. Es entsteht, wenn eine schwierige und bedrohliche Situation nicht verarbeitet werden kann. Dann kommt es zu einer Spaltung, das Bewusstsein geht auf eine imaginäre Ebene und bildet dort die Strukturen des Egos aus. Trauma ist also die Wurzel des Egos.

Das Ego sieht sich deshalb als Beschützer vor Gefahren und übt damit die Macht über das organismische Fließen aus, das trotz aller Traumatisierungen weiter geht. Damit beginnt ein duales Leben – wir leben faktisch auf zwei Ebenen, weshalb wir in Dualitäten denken. Die eine wird vom Ego gelenkt und die andere von den Prozessen des Lebens. Wenn wir funktionieren, sind wir auf der Ego-Ebene, wenn wir leben auf der anderen.

Da das Ego aus Dissoziation entstanden ist und nur solange besteht, als es Dissoziation gibt, will es diese Spaltung um jeden Preis aufrecht erhalten. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass es das menschliche Ego ist, das die Ideen vom Weiterleben nach dem Tod erzeugt hat und immer wieder weitergibt. Es suggeriert uns damit, dass wir keine Angst haben müssen vor der absoluten Grenze des Todes, weil es ja weiter existieren wird. Zusätzlich produziert es die Illusion, dass es in dem Jenseits, in das es dann eintreten wird, gar nicht mehr notwendig ist, weil da ja für alles gesorgt wird und keine Bedrohungen mehr bestehen. In christlicher Vorstellung z.B. betrachtet man das Antlitz Gottes in unendlicher Liebe, und alles andere ist belanglos. Das Ego verspricht gewissermaßen, sich zu verabschieden, aber erst eben, wenn es von diesem Körper befreit ist, in dem all die Traumen gespeichert sind.

Wir verstehen in diesem Zusammenhang sofort, warum der Körper in manchen leibfeindlichen Traditionen als Hort des Unreinen, Bösen und Schlechten abgewertet wurde. Es ist jedoch nur „Propaganda“ des Egos, das seinen eigenen Bestand damit rechtfertigen will. Zusätzlich kann es mit einiger Überzeugungskraft behaupten, zum Unterschied von diesem mangelhaften sterblichen Körper selber unsterblich zu sein. Es ist ja der Meister der Dissoziationen, und im Bereich des vom Lebensfluss abgespaltenen Bewusstseins ist das Vorspiegeln jeglicher Illusion leicht möglich.


Das Ego und seine Macht


Ein weiteres Lieblingsthema des Egos ist die Macht. Um seine Funktion ausüben zu können, muss es seine Machtbasis immer mehr aufbauen und absichern. Eine seiner Strategien liegt darin, trotzig die eigene Begrenztheit zu ignorieren. Deshalb tun wir uns so schwer zu akzeptieren, dass es eine unüberwindliche Grenze unseres Lebens und unserer Existenz gibt.

Es verletzt unseren Stolz als Geistwesen, aber auch unser Machtstreben, das uns dazu bringt, uns immer mehr zu bereichern und abzusichern. Soll all dieses Streben letztlich sinnlos gewesen sein, weil wir alles zurücklassen müssen? Da wir wissen, dass niemand seinen materiellen Besitz über den Tod hinaus retten kann, muss wenigstens die Seele erhalten bleiben.

Unter dem Mantel der Religiosität und Spiritualität versucht sich das Ego eine Zeitlosigkeit zuzulegen, weil es von der Vorstellung gekränkt ist, einmal seine Macht aufgeben zu müssen. Es will ewig leben. Es soll keine Macht geben, die ihm diese Ewigkeit streitig machen könnte.


Die Grenze des Wissens


Deshalb akzeptieren wir auch nicht, dass es eine unüberschreitbare Grenze unseres Wissens gibt. So viel wissen wir schon, und immer mehr Wissen wird erschlossen. Warum sollen wir uns gerade mit dieser Begrenzung zufrieden geben? Das, was weiß, kann nicht wissen, was ist, wenn es nicht mehr ist. Ein Auge kann nicht einmal sehen, wie es sieht, geschweige denn, wie es sähe, wenn es nicht mehr wäre. Alles, was wir wissen, sagt uns, dass wir nichts mehr wissen können, sobald die Grundlagen unseres Wissens, die in der lebendigen Aktivität des Gehirns und Nervensystems bestehen, zugrunde gegangen sind, also ihre Aktivität beendet haben.

Gekränkt wegen dieser Grenze, die zu unserem Menschsein gehört, suchen wir Auswege und bilden zu dem Zweck Glaubenssysteme, die uns die Illusion vermitteln, dass wir eine Macht über unseren physischen Tod hinaus ausüben können. Da wir bis ins Absolute hinein denken können, tun wir uns so schwer zu akzeptieren, dass all unser Wissen und Erleben, also das, was unser Leben ausmacht, an die Relativität und Vergänglichkeit unseres Körpers gebunden ist.

Was wir allerdings wissen können: Unser Leben ist ein körperlich-seelisches Leben mit einem Ablaufdatum und einem Ende seiner Existenz. Mehr Wissen gibt es zu diesem Thema nicht, alles andere ist Illusion. Und der Betreiber der Illusionsmaschine ist das Ego.


Die Ängste und der Tod


Glaubenssysteme, die mit der Unsterblichkeit der Seele hantieren, sind gesteuert von Ängsten, die verständlicherweise mit der Vorstellung des menschlichen “Seins zum Tod“ zusammenhängen. Wovor wir im Tiefsten Angst haben, ist der Tod. Alles, was uns Angst macht im Leben, weist uns auf die Möglichkeit des Sterbens hin. Damit will die Angst unser Weiterleben sichern.

Wenn der Tod nur teilweise (nur in Bezug auf den Körper) stattfindet, braucht die Angst weniger zu sein, so die Rechnung. Sie geht aber nicht auf, weil die Angst eine körperliche Erfahrung ist, die, zumindest in der uns bekannten Form, aufhört, sobald der Körper das Ende seiner Lebendigkeit erreicht hat. Die Angst hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn wir sterben.

Neurotische Ängste können wir bearbeiten, sodass sie uns nicht mehr behelligen. Die Angst vor dem Tod ist eine von ihnen, weil sie nicht auf einer realen Bedrohung beruht, sondern auf einem Gedanken, der die Zukunft halluziniert.

In jeder realen Angst begegnet uns zwar die Angst vor dem Tod: Wenn wir in eine gefährliche Situation geraten (Absturz beim Bergsteigen, Unfall beim Schifahren, Sturz über eine Stiege, Panikattacke oder Herzaussetzer...), sind wir mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert. Die Angst dient aber in diesen Situationen dazu, dass wir die konkrete Herausforderung meistern können, indem wir alle Ressourcen mobilisieren, um uns aus der gefährlichen Situation zu retten. Hier ein Beispiel dazu:

 
Der Mann, der in den Brunnen stürzte

Ein Mann stolpert und fällt in einen tiefen Brunnen, stürzt hundert Meter, bis er an einer dünnen Wurzel Halt findet und sich anklammern kann. Sein Griff wird schwächer und schwächer, und in seiner Verzweiflung schreit er hinauf: „Ist da wer da oben?“
Er schaut hinauf, kann aber nur einen Kreis mit Himmel sehen. Plötzlich teilen sich die Wolken und ein Lichtstrahl scheint zu ihm hinunter. Eine tiefe Stimme donnert: „Ich, der Herr, bin es. Lass die Wurzel los und ich werde dich retten.“
Der Mann überlegt einen Moment und ruft dann: „Ist vielleicht noch jemand anderer dort oben?“


Ohne Weiterleben weiter leben


Was würde uns fehlen, wenn wir jede Form des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod aufgäben, wie würde sich dadurch die Qualität in unserem Leben ändern? Worin könnte ein Gewinn liegen? Welche Angst meldet sich? Und was würde passieren, wenn diese Angst keine Rolle mehr spielte?

Es geht eine Gewohnheit verloren, eine in jeder Kultur verbreitete Vorstellung, „dass es mit dem Tod nicht aus sein kann, dass es weitergehen muss“. Es geht eine Tröstung verloren, die von dieser Vorstellung stammt. Es geht eine Hoffnung verloren, die uns vor dem Endgültigen schützt. Die Ängste vor dem Ungewissen werden ein Stück beruhigt.

Wenn wir den Glauben an ein Weiterleben aufgeben, fehlen uns diese Elemente. Wird unsere Welt dann trostloser und hoffnungsloser, sind wir immer mit der Angst vor dem Ungewissen konfrontiert? Wird sie farbloser und eingeschränkter, wenn diese Perspektive fehlt?

Das Glauben kann uns eben keine Sicherheit bieten, denn die Ungewissheit bleibt: Werden wir wirklich nach dem Tod auferstehen? Was, wenn es nicht stimmt? Wer an Himmel und Hölle glaubt, kann nicht wirklich sicher sein, ob nicht die Lehre von der Wiedergeburt stimmt, wer an letzteres glaubt, kann sich nicht sicher sein, ob er sich nicht doch im Himmel, Fegefeuer oder in der Hölle wiederfinden wird, statt in einem neuen Körper. Die Theologen der einen Richtung sagen das eine, die Theologen der anderen predigen etwas anderes, die heiligen Bücher aus einer Ecke versprechen dies, die ebenso heiligen Bücher aus der anderen Ecke jenes; ein freies Feld von Meinungen ohne jede Sicherheit und ohne irgendeinen Maßstab von Relevanz.

Das Glauben kann als Gegengewicht gegen die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit dienen, damit wir von solchen Gefühlen nicht gelähmt werden, sondern zu unserer Handlungsfähigkeit zurückfinden. Unsere Verzweiflungen und Verirrungen stammen aber nicht aus einem Mangel an Glauben, sondern aus den traumatisierenden Erfahrungen unserer Lebensgeschichte. Wenn wir mit dem Leben verbunden sind, wie es von Moment zu Moment fließt, gibt es keine Verzweiflung und keinen Mangel an Hoffnung.

Je mehr von unseren neurotischen Ängsten wir aufgelöst haben, desto mehr leben wir von diesem Augenblick zum nächsten, sodass sich der Kreis schließt: Wir verzichten auf die Glaubenssysteme, die sich aus den neurotischen Ängsten speisen, und lösen uns aus der Macht der Ängste. Damit können wir das Leben, das wir im Hier und Jetzt leben, mit voller Kraft, Kreativität und Freiheit leben.

Wenn wir uns einmal darauf eingelassen haben, dass wir auf jedes Wissen über das Sein nach dem Tod verzichten können, können wir die Freiheit des Seins vor dem Tod noch voller annehmen und gestalten. Die Erfüllung brauchen wir nicht auf eine Zukunft verschieben, sondern können sie im Jetzt entdecken. Wenn uns etwas fehlt, wenn etwas mangelt, dann nur deshalb, weil unser Blick von unserem Ego gelenkt ist und nur die Einschränkungen sieht statt der Fülle, die da ist. 


Vgl. Theologie und Mystik zur Frage des Weiterlebens
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Wissen, Phantasie und Glaube
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

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