Mittwoch, 29. Oktober 2014

Die Erste-Person-Perspektive als Wissenschaft


Die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive


Wenn wir über Wissenschaft reden, meinen wir üblicherweise eine Wissenschaft, die auf der Dritten-Person-Perspektive (3PP) begründet ist. Eine solche Wissenschaft beruht auf objektiven Fakten und auf Schlussfolgerungen, die auf Regeln beruhen, die von einer breiten Öffentlichkeit geteilt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen valide und wiederholbar sein, sodass sie auch von anderen Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft überprüft werden können. Das Prinzip der Falsifizierbarkeit nach Karl Popper sollte anwendbar sein: Es muss bei einer Theorie grundsätzlich möglich sein, dass ihre Falschheit bewiesen werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind solche, die keine absolute Geltung in Anspruch nehmen.


Wissenschaft des inneren Sinns


Auch wenn das die gewohnte Form von Wissenschaft ist, die wir gut kennen, so ist es doch nicht die einzige. Denn neben der 3PP verfügen wir immer auch über eine 1-Person-Perspektive (1PP), ein unmittelbares Wissen über uns selbst, das nur uns selbst zugänglich ist. Wo es Wissen gibt, kann es grundsätzlich auch eine Wissenschaft geben. 

Worin könnte nun eine Wissenschaft der Ersten-Person-Perspektive (1PP) bestehen? Deren Daten sind subjektiv und nur für die inneren Sinne zugänglich. Folglich sind sie singulär und einzigartig. Es gibt keine Möglichkeit zur Wiederholung und Falsifikation im traditionellen Sinn. Dennoch können die Daten und die Theorien, die aus ihnen abgeleitet sind, kommuniziert, evaluiert und verglichen werden.

Als die Wissenschaften begannen, die Welt der Kognitionen zu erobern, war die 1PP-Wissenschaft so wichtig und anerkannt wie die 3PP-Wissenschaft. Es wurde jedoch die 3PP-Wissenschaft im Lauf des 20. Jahrhunderts vorherrschend und diktierte den Goldstandard für Wissenschaftlichkeit, während die 1PP-Wissenschaft an den Rand der Welt der Wissenswelt verbannt wurde. Zusätzlich gewann die 3PP-Wissenschaft eine tonangebende Rolle für Gesellschaft und Politik, indem sie eine zentrale Rolle in der Welterklärung beanspruchte und verlangte, dass vernünftige Entscheidungen für das Leben von einzelnen wie von Staaten auf ihren Prinzipien beruhen sollten.

Die Vorteile der 3PP sind offensichtlich und beziehen sich auf ein Alltagsverständnis von Wahrheit. 3PP-Wissen leitet sich aus Daten ab, die wir über die äußeren Sinne empfangen: Sehen, hören, berühren, riechen, etc. Auf diese Weise nehmen wir Objekte wahr. Die Wahrnehmung der Objekte wird von jedermann geteilt: Wer schon in Paris war, kann bestätigen, dass es dort einen Eiffelturm gibt. Wer noch nicht dort war, kann hinfahren und die Wahrnehmung der anderen bestätigen. Aber sie können auch an das glauben, was ihnen andere berichten: "Ich habe den Eiffelturm mit eigenen Augen gesehen." Das wird zu einer verlässlichen Wahrheit, wenn ihre eine bestimmte Anzahl von Personen zustimmt.

Wenn jemand sagt: "Ich habe gesehen, wie ein Raumschiff in meinem Garten gelandet ist", so würden wir dieser Person nur glauben, wenn es eine genügende Anzahl von anderen Leuten bestätigen könnte. Dann könnten wir einen Konsens über die objektive Existenz des Raumschiffes bilden. Käme jemand und behaupte, dass da kein Objekt wäre, können wir an seinen Sinnen oder seinem Verstand zweifeln. Wenn jedoch eine genügend große Anzahl von Leuten die Existenz des fraglichen Objekts leugnen, müssen wir die Objektivität seiner Existenz aufgeben. (Nebenbei gesagt: 20% der US-Einwohner glauben an außerirdische Entführung - stellen wir uns nur vor, dass nur jene an der Umfrage teilnehmen konnten, die heil von der Entführung zurückgekommen sind - und was machen wir, wenn eines Tages die Zahl der Alien-Überzeugten die magischen 50 Prozent überschreitet?)

Soll also eine Theorie angenommen werden, müssen die Daten und die Schluss folgerungen von der Wissenschaftsgemeinschaft (scientific community) akzeptiert werden. Ohne deren Segen bleibt jedes Forschungsergebnis eine private Spekulation.

Mitglieder dieser Gemeinschaft der Wissenschaftler sind Menschen, die sich gemäß den wissenschaftlichen Standards verhalten. Sie brauchen eine Form der ethischen Integrität, aus der heraus sie sich an die Regeln der Wissenschaft halten und ihnen entsprechend handeln. Es ist also ein 1PP-Standard erforderlich, damit die 3PP-Wissenschaft funktionieren kann. Sich wissenschaftlich zu verhalten, ist keine "normale" Form des Verhaltens, sondern eine sehr exklusive und extravagante Form, sich mit der Welt auszutauschen. Sie erfordert eine gründliche Ausbildung und die Disziplin, Objekte mit Geduld und ohne Vorurteile zu studieren. Z.B. kann das bedeuten, Stunden, Tage und Wochen durch ein Mikroskop oder auf einen Computerbildschirm zu starren. 

Jemand, der nicht bereit ist, diese Disziplin auf sich zu nehmen, wird nicht in der Lage sein, die Theorien irgendeiner Wissenschaft zu wiederholen oder zu falsifizieren. Deshalb verlässt sich die 3PP-Wissenschaft auf 1PP-Qualitäten, die sie braucht, damit sie so arbeiten kann, wie sie arbeitet.


An den Schnittstellen


Gegen Ende des letzten Jahrhunderts und fortgesetzt ins neue Millennium sind neue Tendenzen aus den 3PP-Wissenschaften hervorgegangen, die sich zunehmend den Grenzen der 1PP annähren. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Neurowissenschaften, die beträchtliche Fortschritte verzeichnen  konnten und konsequent an der Schnittstelle von Gehirnprozessen und Erfahrungen, von Objektivität und Subjektivität, von 3PP und 1PP arbeiten.

Untersuchungen zum Placebo-Effekt haben paradoxe und widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Diese rätselhaften Phänomene können wahrscheinlich nur erklärt werden, wenn eine 1PP dazugenommen wird. Ein anderer Wissenschaftszweig beruft sich auf die Embodiment-Theorie: Körper und Verstand dürfen nicht getrennt betrachtet werden. Jedes Studium des menschlichen Verstandes muss die komplementären Prozesse auf der Körperebene miteinschließen und benötigt dazu folglich eine 1PP.

Die Epigenetik, ein weiterer Zweig der modernen wissenschaftlichen Froschung, konnte belegen, dass die Gene permanent mit ihrer zellulären Umgebung interagieren und ihre Funktionen den aktuellen Bedürfnissen der Zelle und des ganzen Organismus anpassen. Wenn es gelingt, Methoden zu finden, die diese interaktiven Prozesse für Heilungszwecke regulieren und modulieren, dann kann sich hier ein fruchtbares Feld für gemeinsame 1PP- und 3PP-Forschungen eröffnen.

Weitere Gebiete für eine Kombination von objektiver und subjektiver Wissenschaft können in den Psychotherapie-Wissenschaften und in neuen Zugängen in der Medizin wie z.B. in der personzentrierten Medizin gefunden werden. 

Deshalb sollte die Wissenschaftstheorie die neuen Möglichkeiten in der Kooperation und Integration von 1PP und 3PP berücksichtigen: Der Vorzug der 3PP, der in einem allgemein akzeptierten zuverlässlichen Weg zur Gewinnung von objektiven Erkenntnissen und relativen und nützlichen Wahrheiten besteht,  könnte mit einer wissenschaftlichen 1PP kombiniert werden. Denn diese stellt einen unverzichtbaren Zugang zu Daten zur Verfügung, die durch die 3PP niemals gefunden werden können und die wesentlich sind, damit wir uns einer vollständigen Erklärung der Wirklichkeit und ihrer Funktionsweise annähern können

Das ist der Grund, warum wir eine inklusive Form des wissenschaftlichen Wissens am Horizont sehen. Es wird notwendig sein, um einerseits bestmöglich für das menschliche Wohl zu sorgen und andererseits die wissenschaftliche Verlässlichkeit zu gewährleisten. Dazu wird auch die Mitberücksichtigung einer Zweiten-Person-Perspektive erforderlich sein, die das Wissen, das aus zwischenmenschlichen Beziehungen erwächst, zum Gegenstand hat, und einer Ersten-Person-Plural-Perspektive, welche sich um das Wissen kümmert, das sich in kollektiven Erkenntnissen, in der Weisheit von Gruppen, Gemeinschaften und größeren Gesellschaftsformationen findet.

Wir müssen diese Perspektiven in die wissenschaftliche Forschung integrieren, wenn wir ein holistisches wissenschaftliches Modell der Welt erstellen wollen. Daten aus den verschiedenen Quellen der Wahrnehmung sollten gleichermaßen zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen, als Äquivalent zu einer demokratischen Gesellschaft. Dann können wir auch neue Zugänge zu den Fragen um die Gesundheit finden, die auch von Menschen akzeptiert werden können, die sich skeptisch und enttäuscht vom wissenschaftlichen Denken abgewandt haben, weil diesem die 1PP-Erfahrungen fehlen.

Wenn es gelingt, dieses inklusive wissenschaftliche Wissen über die Welt im allgemeinen und über die Menschen im besonderen in eine akzeptable und nutzbringende Form zu bringen, können wir neue Perspektiven zu wichtigen Fragen öffnen: Was ist Gesundheit? Was ist der Mensch? Was ist das Selbst als Horizont für inneres Wachstum?

Aus einem Vortrag zum Thema "What Science can Learn From Breathwork?", gemeinsam erarbeitet von Wolfgang Fellner und Wilfried Ehrmann für die Konferenz der International Breathwork Foundation im Juli 2014 in Irland

Vgl.
Die Verdinglichungstendenz
Das innere Wissen und eine neue Methodologie
Das innere Wissen und sein Beitrag für die Welt

1 Kommentar:

  1. Sehr geehrter Herr Ehrmann,

    ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Erforschung des Seins und vor allem des Bewußtseins und aus der Erfahrung heraus kann ich mitteilen, daß die Erste-Person-Perspektive, wie auch die Dritte-Person-Perspektive beiderseits für sich nicht praktikabel sind, weil sie jeweils für sich alleine nicht die bedingende Objektivität zueinander beinhalten. Das Einzige, was tatsächlich funktionabel ist, ist das Kombinat aus allen drei Perspektiven (1PP & 2PP & 3PP).

    Hierzu ist zu bedenken, daß sich die inhaltliche substanziell und funktionale Gegebenheit der Psyche einzig über den Bewußsinn - dem bewußt werden im Bewußtsein - direkt vermittelt und Teile der Funktionalität und Abläufe gar nicht nach außen dringen, bzw. von außen wahrnehmbar ist. Auf der Basis dessen und in Abgrenzung zum Denken habe ich im Laufe der Jahre vielerlei entdecken können, was in keiner Weise irgendwo bekannt ist, wie es sich mir aufzeigt.

    Wie sich mir aus meinem Verhältnis heraus aufzeigt, hängt die systematische Gegebenheit des reinen Dritte-Person-Händlings mehr an dem Mißstand rein theoretischer Kapazitäten und es für mich eine nicht enden wollende Geschichte, nach all den Jahren der Zurückgezogenheit meine Erfahrungen und Erkenntnisse heute in Worte zu fassen, welche fast ausschließlich von Solchen gebildet sind.

    Nach wie vor bin ich dabei, dies in die entsprechenden Worte zu fassen und möchte Sie hierzu einladen, sich einen Einblick zu verschaffen in die Meinigen und Sie werden ersehen, daß es da einiges gibt, was über die 3PP nicht ersichtlich sein kann und worin der maßgebende Bestandteil der 1PP meines Ersehens heraus besteht.

    Mit freundlichen Grüßen
    Jörg Lenau

    http://www.sya.de/

    AntwortenLöschen