Dienstag, 6. Mai 2014

Das Ego und seine Wurzeln

Wir kennen alle unser Ego, seitdem wir gelernt haben, Nein zu sagen und unseren Willen kundzutun. „Ich will nicht", wird zur Manifestation unseres Eigensinns. Wir lernen, unsere Grenzen nach außen, gegenüber den Erwartungen der anderen Menschen, zu definieren und unsere Interessen durchzusetzen. Auch sind wir mit den Egos unserer Mitmenschen vertraut, nämlich dann, wenn sie uns stören, irritieren, verletzen und einschränken.

Wo liegt der Beginn des Egos, wie wir es aus den verschiedenen spirituellen Traditionen kennen? Wo liegen seine Wurzeln? Sind wir als Egoisten geboren, geschaffen, gemeint? Oder werden wir durch die Erziehung dazu gemacht, beginnend mit dem Trotzalter und verstärkt und zementiert während  unseres Marsches durch die Erziehungsinstitutionen?


Der Fluss des Lebens und das Ego


Im Normalfall befindet sich der Organismus in einem kontinuierlichen Lebensfluss. In diesem Zustand vollzieht er seine Stoffwechselaktivitäten, wächst, interagiert mit anderen Organismen, pflanzt sich fort und sammelt Ressourcen für Notfälle. Dazu braucht er kein Ego. Das Leben geschieht einfach und natürlich, entfaltet sich und zieht sich wieder zusammen, entsteht, reift und vergeht.

Nach meiner Auffassung bildet sich das menschliche Ego, sobald eine Überforderungssituation, eine Traumatisierung im fließenden organischen Prozess auftaucht. Unter Trauma verstehe ich eine Erfahrung, die der Organismus erlebt, aber aufgrund ihrer bedrohlichen Übermacht und wegen fehlender Ressourcen nicht verarbeiten kann. In diesem Fall wird die Erfahrung in einem Angstgedächtnis abgespeichert, damit bei ähnlichen Erfahrungen in der Zukunft sofort eine rasche und intensive Schutzreaktion des Organismus stattfinden kann.

Die Traumaerfahrung bewirkt also eine Unterbrechung des Normalzustandes, und das Notprogramm, das dabei in Gang gesetzt wird, schaltet auf eine andersartige Form der Wirklichkeitserfahrung um. Es geht dann ausschließlich um die Selbsterhaltung, und die Kommunikation nach außen wird auf das dafür notwendige Minimum reduziert. Intern werden die Ressourcen für die Sicherung des status quo aktiviert und sukzessive aufgebraucht.

Wir haben es also mit einem Prozess der Verengung zu tun: Die Verengung der Wahrnehmung durch die Einschränkung der Sinnesorgane und die erhöhte Filterfunktion des Nervensystems bewirken die Einengung der erfahrenen Wirklichkeit insgesamt. Die inneren Prozesse werden mittels vorgegebener, eingeprägter oder instinktiver Mustern strukturiert. Neue Erfahrungen werden nicht oder kaum zugelassen. Es findet folglich kein Lernen statt, sondern die Selbstbestätigung der schon bestehenden Programme. An die Stelle eigener Körpergefühle treten Ersatzgefühle (sekundären Gefühlen), die vor allem das Gehirn durch die Ausschüttung von entsprechenden Botenstoffen produziert.

(Es ist unschwer zu erkennen, wie verlockend der Mechanismus der Produktion von Ersatzgefühlen ist - das erklärt die Attraktivität von Drogen und allen anderen Formen der Suchtaktivität.)

Wird der Bedrohungszustand als extrem erfahren, kommt es zu dissoziativen Prozessen, d.h. die Wirklichkeitskonstruktion wird noch weiter eingeschränkt. Zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit entsteht dabei ein Spalt, weshalb wir von Abspaltung sprechen: Das Bewusstsein will sich in einen geschützten Bereich zurückziehen, indem es vor den widrigen und lebensbedrohlichen äußeren Umständen und seinen Folgen im eigenen Inneren sicher ist. Dann kann es zu Wahrnehmungsformen kommen, in denen z.B. der eigene Körper als Objekt von außen gesehen wird. Statt der schwer zu ertragenden Empfindungen und Gefühle, die in diesem Körper ablaufen (Angst und Schmerz), werden mit Hilfe von Endorphinen angenehme Ersatzgefühle (Leichtigkeit, Glück) produziert. 


Trauma und Ego


Die verengte Wirklichkeitssicht, wie sie in der Traumaerfahrung entseteht, ist die Basis für die Entwicklung dessen, was wir das Ego nennen. Es ist jene Instanz in uns, die durch unverarbeitete Ängste aktiviert und am Leben erhalten wird. Das Ego arbeitet auf der Grundlage von fixierten Programmen und unbewussten Regeln. Es ermöglicht uns, in der Welt zu funktionieren, also unseren Tätigkeiten nachzugehen, aber auf eine eingeschränkte Weise. Es ist immer mit einer Form von Anspannung und Stress verbunden.

Da das Ego aus Überlebensprogrammen besteht, ist es notwendigerweise selbstbezogen. Die anderen haben nur einen Wert als Mittel zum eigenen Überlebenszweck, ansonsten sind sie Störquellen, Konkurrenten oder Feinde. Das Prinzip des Egos liegt in der Trennung vom Fluss des Lebens, der als gefährlich angesehen wird. Es besteht aus einer Menge von verdinglichten, also unveränderlichen Erinnerungen, die nicht von der momentan prozessual erlebten Wirklichkeit beeinflusst und abgeschwächt werden können.


Das pränatale Ego


Überfordernde, traumatisierende Situationen tauchen nicht erst im Kindheitsalter auf. Ab der Empfängnis ist das neu entstandene Leben verletzbar und in seinem Überleben bedroht. Die starke Abhängigkeit von einer nährenden und unterstützenden Umgebung und die schwach ausgeprägten eigenen Fähigkeiten zur Problembewältigung, wie sie bei Embryos und Föten gegeben sind, unterstützen die Annahme, dass Traumatisierungen umso massiver wirken, je früher sie auftreten.

Wir können also davon ausgehen, dass schon von Anfang an, z.B. von der Empfängnis an, Egostrukturen entwickelt werden. Da es Traumatisierungen schon in den frühesten Phasen der Entwicklung geben kann, liegt hier die Basis für die Ausbildung der defensiven und dissoziativen Reaktionsmuster,  die dann im weiteren Leben ausgebaut werden. Spätere Erfahrungen beleben und verstärken diese ersten Eindrücke und geben ihr umso mehr Macht.

Das bedeutet auch, dass wir an diese frühen Wurzeln der Ego-Formung zurückgehen müssen, wenn wir dieses Ego entmachten und überwinden wollen. Mit jedem Stück Heilung an den ganz anfänglichen Wunden öffnet sich ein Stück Freiheit und ein Wiederanknüpfen an das Fließen des Lebens, das unterhalb der Geschichte der Traumatisierungen wirkt und wirkt. Erst mit dieser Anbindung kann das Vertrauen wiedergewonnen werden, das uns zur inneren Sicherheit und inneren Freiheit führt.


Das Ego verstehen lernen


Mit dem Verstehen von pränatalen Krisen und Schockerfahrungen kommt auch die Einsicht in die Natur dieser Abläufe. Wir erkennen, dass niemand schuld daran ist, dass es zu Traumasituationen gekommen ist, dass also niemand schuld ist, dass sich ein Ego entwickeln musste. Vielmehr hat es mit innerer Weisheit zu tun, dass es dieses Ego gibt. Das Leben selbst zu den bedrohlichen Ereignissen geführt, weil es nicht immer auf einer ruhigen und breiten Bahn dahinfließt, sondern da und dort in ein reißendes Gefälle oder einen rasenden Wirbel führt. Es ist also das Leben selbst, das das Ego als Nothilfe erschaffen hat, damit es weitergeht, auch wenn Ereignisse geschehen, die an den Rand der Zerstörung führen.

So wird uns gleichzeitig klar, dass die Egos der anderen Menschen nicht Folge von bösen Absichten, hinterhältigen Neigungen oder genetischen Missbildungen sind, sondern aus Verletzungen rühren, die weit unter der Bewusstseinsschwelle liegen. Es braucht viel Bewusstheitsarbeit, damit diese Wurzeln überhaupt wahrgenommen werden können, als erster Schritt zu ihrer Heilung. Auch wenn uns diese Unzukömmlichkeiten anderer Menschen, solange wir selber von unserem Ego gelenkt sind, die Probleme und Schwierigkeiten bereiten, an denen wir leiden, können wir einsehen, dass sie selber Opfer ihrer eigenen Verstrickungen und Verletzungen sind. Das hilft uns dann zu entspannen und damit an das Strömen des Lebens anzudocken, von dem alles und jedes verstanden wird, was sich an Phänomenen an seiner Oberfläche ausbildet.

Und wir verstehen, dass das Leben auch bereit ist, uns immer wieder aufzunehmen, so weit auch immer wir uns in die Machenschaften unseres Egos verirrt haben. Es hält nichts fest und wartet nur darauf, dass wir das Festhalten, das uns das Ego gelehrt hat, aufgeben. Es ist wie die Heimat, aus der wir stammen, die wir unter tragischen Umständen verlassen mussten, und zu der wir verzweifelt den Weg zurück suchen. Denn wir wissen, dass wir die Quelle nicht im abgetrennten und selbstsüchtigen Agieren unseres eingesperrten Denkens finden können. Wann immer der Zugang zur tieferen Quelle unseres Seins aufblitzt und wir eine Ahnung der Quelle erspüren, bekommen wir den Mut, den wir brauchen, um Schicht für Schicht den Weg zurück, der immer auch ein Weg nach vorne ist, freizulegen.


Vgl.: Ego-Bestätigung und Berufung
Das Ego als Pforte zur Wahrheit
Die Manifestation und das Ego
Mit dem Leben fließen

2 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried,

    diese Theorie ist interessant, für mich aber nicht überall nachvollziehbar.

    Leben fließt nur kontinuierlich und "unschuldig", solange man einen einzelnen Organismus betrachtet. Sobald zwei Organismen aufeinander treffen, wird der Zustand höchst labil mit der hochgradigen Tendenz in einen Überlebens- bzw. Konkurrenzkampf abzukippen. Das können wir ebenso im Tierreich wie auch im Pflanzenreich beobachten. Also auch hier Ego.

    Ich glaube, dass - jetzt nur einmal auf Menschen bezogen - zunächst alle ein Grundmaß an Ego bei der Geburt mitbringen; sozusagen als Keim der Polarität im Innerpsychischen, das dann im Verlaufe von Traumatisierungen verschiedenster Art noch weitere Ausprägungen erfährt.

    Ich glaube nicht, dass das Ego auf materieller Grundlage seine Entstehung hat.

    Meine Sichtweise ist die:

    Die Idee des Ego findet auf der geistigen bzw. Bewusstseinsebene (nicht die mentalen Verstandesebene ist hier gemeint) statt. Hierauf detaillierter einzugehen würde zu umfangreich werden. Von hier aus kann aber auch das psychische Egoverhalten beeinflusst werden.

    Das heißt für mich nicht, dass in der Materie für das Ego keine bio-physiologischen Entsprechungen existieren können. Geist/Bewusstsein durchdringt die Materie und drückt sich in ihr und durch sie aus. Ich sehe z. B. das Gehirn als einen Transformator für geistige/Bewusstseins-Prozesse in die Materie hinein.

    Dementsprechend können sich in der Körperlichkeit durchaus vielerlei vermeintliche Ursachen finden lassen für Bewusstseins-Vorgänge.
    Ego könnte demnach durchaus genetisch veranlagt sein.

    Von unserer Schuld oder Unschuld bzgl. der Entstehung des Ego will ich hier nicht sprechen. Wir wissen, dass ein gesunder Egoismus unumgänglich ist, um für den Selbsterhalt zu sorgen in dieser Welt der Unbeständigkeit und Polarität. Zu Egozentrik – Selbstsucht – wird er dann, wenn er die Grenzen anderer verletzt und auf deren Kosten agiert.

    Wichtig für jeglichen Menschen ist in aller erster Linie zu wissen und zu spüren, dass neben Egozentrik noch ein anderer Seins-Modus existiert, den er zu wählen in der Lage ist: Mitgefühl/Mitfühlen mit dem, was ihn umgibt, und daraus resultierend eine Einsicht, dass alles in gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit existiert.

    Liebe Grüße
    Ruth

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    1. Liebe Ruth,

      danke für den interessanten Kommentar.

      Meine These ist, dass es immer dann, wenn das Überleben bedroht ist, sei es durch widrige äußere Umstände oder durch Konkurrenzkampf mit Artgenossen, Notprogramme aktiviert werden müssen. Diese Programme bewirken eine Spaltung mit dem Fluss des Lebens. Dieser wird dauerhaft, wenn die Spaltung nicht bewältigt werden kann.
      Da ich meine, dass Entwicklung immer mit dem Risiko der Traumatisierung verbunden ist, glaube ich auch, dass niemand ohne Ego geboren werden kann.
      Ich glaube auch nicht, dass das Ego auf materieller Grundlage entstanden ist, weil es nichts Materielles ist. Deshalb glaube ich auch nicht, dass das Ego genetisch veranlagt ist. Es ist eine Struktur, die bestimmte Aufgaben hat, die anders nicht gelöst werden können. Diese Struktur wird individuell gebildet, je nach Art der Traumatisierung und der zur Verfügung stehenden Ressourcen.
      Ich finde es deshalb wichtig, die biographischen Wurzeln des Egos zu verstehen, weil wir dadurch Mitgefühl mit uns und mit anderen entwickeln können. Damit kommen wir in den von dir angesprochenen anderen Seins-Modus und finden zurück in das Fließen des Lebens.

      Liebe Grüße
      Wilfried

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