Dienstag, 12. November 2013

Narzissmus und Prä-Trans-Verwechslungen

Im ersten Beitrag zu den Prä-Trans-Verwechslungen habe ich die Vermutung geäußert, dass die Tendenz zu solchen Verwechslungen auf nicht aufgearbeiteten Traumaerfahrungen beruht. Aus solchen Vorprägungen kann auch die innere Anziehung zu „zwielichtigen" Angeboten der Esoterik erwachsen, die viele Menschen in unseren Breiten zum Konsum von entsprechenden Büchern, Gegenständen und Dienstleistungen motiviert.

Ich möchte hier die Verbindung zwischen Prä-Trans-Verwechslungen und narzisstischen Störungen genauer betrachten. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen haben die Kennzeichen von einer Überschätzung der eigenen Wichtigkeit verbunden mit Fantasien über Erfolg und Macht, Verlangen nach Bewunderung durch andere, Fehlen von Einfühlungsvermögen, Egoismus und Überheblichkeit. Das zentrale Bestreben des Narzissten liegt darin, sein labiles Selbstwertgefühl in Balance zu bringen. Er nutzt dafür andere Menschen gnadenlos aus, häufig mit ausgeprägten manipulativen Fähigkeiten. Narzissten können nach außen sehr charmant und gewinnend auftreten, während sie zugleich, aus der Nähe betrachtet, kühl, unnahbar und arrogant wirken.

Menschen, die in ihrer Kindheit wenig echte Zuwendung und Verständnis erfahren haben, können diese Störung entwickeln. Da sie als Kinder selber nie oder viel zu wenig „gesehen“ wurden, erkennen sie andere Menschen und deren Bedürfnisse nicht oder nur mangelhaft. Von den Eltern eher an äußeren Maßstäben gemessen (Du bist viel besser, schöner, tüchtiger als andere Kinder, oder: Du musst noch viel besser, schöner, tüchtiger werden, um zu genügen), entwickeln sie kein realistisches Selbstwertgefühl. Außerdem fehlt es ihnen an Empathie, die ihnen selbst nie oder viel zu wenig entgegengebracht wurde.

Nach dem Psychoanalytiker Stavros Mentzos (1984) gibt es verschiedene narzisstische Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleichen der Defizite im Selbstwertgefühl, von denen hier drei in Bezug auf die Esoterik beleuchtet werden:
Die erste Möglichkeit besteht darin, durch Regressionen in einen früheren (vermutlich pränatalen) Einheitszustand einen Selbstwert- und Machtzuwachs zu bewirken. Daraus entsteht dann die Grundlage für Verschmelzungsfantasien mit etwas unbegrenzt Großen.
Im zweiten Fall werden die unangenehmen Aspekte der Realität mit Hilfe von Größenfantasien verleugnet. Kinder, denen dauernd bestätigt wurde, dass sie ganz besonders und besser als andere Kinder sind, können als Erwachsene Wahnvorstellungen unterschiedlichen Grades (von harmlosen Tagträumereien bis zu psychotischem Größenwahn) entwickeln.
Drittens kann durch die Idealisierung von anderen Personen, die als omnipotent und allwissend verherrlicht werden, versucht werden, das eigene Selbstwertgefühl zu retten.
Im günstigeren Fall entwickelt sich ein Selbst, das innere Sicherheit, Selbstbewusstsein und ein ruhiges Selbstvertrauen ermöglicht, relativ unabhängig von Anerkennung und Kritik durch andere. Kommt es allerdings zu Krisen, dann kann das Fehlen von Erfolgen oder von Bestätigungen durch andere Menschen zu manifesten Störungen führen.


Narzisstische Kompensation durch esoterische Angebote


Die jeweilige Art der narzisstischen Kompensation kann auf der Grundlage von Prä-Transverwechslungen das Interesse an esoterischen Angeboten in eine bestimmte Richtung lenken und damit den Kompensationsmechanismus zu verstärken. Ebenso kann die entsprechende narzisstische Störung auf der Seite der Anbieter den Hintergrund bereitstellen, der für die Entwicklung des entsprechenden Angebotes und seiner Vertretung und Propagierung auf dem Markt notwendig ist.


Verschmelzungsfantansien


Ozeanische Verschmelzungsgefühle gehen mit großer Wahrscheinlichkeit zurück auf die pränatale Zeit, also die erste Geburtsmatrix nach Stan Grof. Der Embryo erlebt im günstigen Fall ein Gefühl des Einsseins mit dem mütterlichen Organismus, das eine gewaltige Ressource für das Urvertrauen in das Leben darstellt.

Das Kind beginnt, diese Einheit zu fantasieren, wenn sie schon verloren ist, und vor allem dann, wenn statt der ganz selbstverständlichen Verbundenheit Erfahrungen des Abgetrenntseins, der Einsamkeit und Unverbundenheit auftreten, wie es geschehen kann, wenn das werdende Leben unwillkommen ist, das Neugeborene von der Mutter getrennt wird oder das Baby allein gelassen wird. So wird die fantasierte Einheit in Form einer Verschmelzung mit etwas Großem und Ganzen zum Fluchtpunkt aus einer schwer zu ertragenden Wirklichkeit voll von emotionalen Entbehrungen.

Menschen, die eine Erfüllung solcher Verschmelzungsfantasien suchen, finden in esoterischen Angeboten eine reichhaltige Anregung und Bestätigung in esoterischen Angeboten: Propagiert wird das Erreichen der Verbundenheit mit Allem, das Eins werden mit einem großen Ganzen, die Auslöschung der eigenen Identität, und der Weg zurück zur Einfachheit, mittels verschiedenster Psychotechniken oder pseudospiritueller Praktiken.


Größenfantasien


Größenfantasien können entstehen, wenn Eltern das Kind idealisieren. Sie sehen das Kind nicht, wie es ist, mit seinen Stärken und Schwächen, sondern so, wie sie es gerne haben würden (oder: Wie sie selber gerne sein würden...). Das Kind entwickelt dann ein unrealistisch aufgeblähtes Selbstbild. Es verliert die Fähigkeit, sich selber an den Reaktionen der Außenwelt einzuschätzen. Die äußere Realität wird in ihrer Rolle als Korrektiv der Innenwelt zurückgestuft, und damit finden Konzepte Eingang ins Bewusstsein, die keinerlei Kontrolle durch die äußere Wirklichkeit benötigen, sondern sofort und ohne Prüfung anerkannt werden. Sie müssen nur mit den eigenen Größenfantasien kompatibel bleiben und sie bestätigen.

Die dahinterliegende Bindungsstörung zwischen Eltern und Kindern ist wahrscheinlich die unsichere (distanzierte) Bindung, die dadurch zustande kommt, dass sich das Kind den elterlichen Vorstellungen von Selbständigkeit und Unabhängigkeit unterordnet und seine eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung verdrängt.

Eine Form dieser Größenfantasien findet sich im Beziehungswahn und seinen milderen Abstufungen, einer Quelle für Prä-Trans-Verwechslungen. Aus der spirituellen Idee, dass alles mit allem verbunden ist, fixiert die narzisstisch gestörte Persönlichkeit inmitten des Netzes dieser unzähligen Verbindungen einen Zentralpunkt, das eigene Ich, auf das sich alles und jedes bezieht, was im Außen passiert, verbunden mit der Annahme, dass diese Beziehungen von einem selbst kausal verursacht werden. Die harmlosen Formen beginnen dort, wo jemand sagt, weil ich an XY gedacht habe, ruft er an (die möglicherweise viel zahlreicheren Gelegenheiten, bei denen jemand anruft, ohne dass vorher an ihn gedacht wurde, oder wo an jemanden gedacht wurde, und diese Person ruft dann nicht an, werden nicht beachtet, statt dessen wird die eine Erfahrung zur Regel gemacht, um die eigene Bedeutung zu erhöhen). Komplexer wird es, wenn jemand annimmt, dass die Leute deshalb aus der Straßenbahn aussteigen, weil man selbst einsteigt oder dass die Ampel deshalb auf rot (oder grün) gestellt wird, weil man gerade bei ihr ankommt.  Bis zu: Die Welt geht den Bach hinunter, weil ich selber zu wenig positive Gedanken bilde. In einer Welt der totalen Determiniertheit aller Vorgänge durch die eigene Willenskraft oder die eigenen Denkvorgänge gibt es natürlich auch keine Zufälle


Dazu passen die entsprechenden Angebote an esoterischen Lehren, die die unbegrenzte Erfüllung der eigenen Wünsche versprechen: Du brauchst dir nur auf die richtige Weise zu wünschen, dann wird dir alles gegeben. Das ganze Universum wartet nur darauf, einen jeden deiner Wünsche zu erfüllen. Das Schlaraffenland wird mit pseudospirituellen Gesetzmäßigkeiten für real erklärt. Kindliche Größenfantasien, in einer belasteten prärationalen Welt entstanden, liefern den Treibstoff für Lehrgebäude, die sich mit rationalen und spirituellen Bordüren verbrämen.


Idealisierung und Identifizierung


Der dritte Kompensationsmechanismus der Idealisierung und Identifizierung bevorzugt neue Konstruktionen der Wirklichkeit, wie sie z.B. in der Romantisierung bestimmter Phasen der Vergangenheit oder in der Erfindung fantastischer Kulturen auf anderen Planeten entstehen. In einer idealisierten Kultur können die Widersprüche und Unmenschlichkeiten der modernen Welt zum Verschwinden gebracht werden.

Weiters bieten sich Personen als Identifikationsmöglichkeiten für das narzisstische Bedürfnis nach Selbstüberhöhung an. Magische Meister mit übermenschlichen Fähigkeiten und kosmischen Verbindungen können nur die letztgültigen und von aller Mühsal befreienden Botschaften vermitteln. Wer über intime Kontakte zu den Plejaden verfügt, kann ein Wissen und eine Weisheit weitergeben, die jedes menschliche Maß übersteigen müssen, auch wenn die gechannelten Einsichten den Aussagewert eines durchschnittlichen spirituellen Ratgebers nicht wesentlich übersteigen.

Doch auch smarte Redner und Zahlenkünstler können mit dem willkürlichen Zusammenschneidern scheinbar objektiven Fakten das Publikum begeistern und seine Sehnsüchte nach einer besseren Welt befriedigen. So spricht z.B. der US-amerikanische New-Age-Vortragende und Bestsellerautor David Wilcock davon, dass sich gerade jetzt ein 25 920-Jahreszyklus abschließt, dank dessen die „Bösewichter“ genau in diesem Moment der Geschichte besiegt werden. Solche Botschaften hören wir gerne und danken es dem Retter mit der Verehrung, die einem Genie gebührt. Auch ist es angenehm zu hören, dass die kosmische Ordnung mit ihren mathematischen Regeln für die Beseitigung der Missstände auf dieser Erde sorgt, so brauchen wir uns selber gar nicht mehr wirklich anzustrengen. Wie leicht sich mit solchen Fantasien und Irreführungen viel Geld verdienen lässt, zeigt die weite Verbreitung der narzisstischen Verknüpfung von Größenfantasien und Idealisierungen.

Wer vierzehn oder fünfundzwanzig Stufen der Erleuchtung gemeistert hat, muss in einem derartigen Maß frei und wach sein, dass er/sie bedingungs- und kritiklose Nachfolge verdient. Alle Mängel oder Menschlichkeiten der Person in Bezug auf die Ethik der Lebensführung, in kommunikativen oder wirtschaftlichen Belangen usw., die ein außenstehender Beobachter wahrnehmen würde, werden vom narzisstischen Idealisierer ausgeblendet.

Schließlich kann die narzisstische Identifikation auch Hypothesen, Theorien und Modellen gelten, die dann nicht mehr als solche angesehen werden, sondern als unhinterfragbare Dogmen. Die von der katholischen Kirche in der Zeit der Konfessionswirren des 16. Jahrhunderts definierte Form der Dogmatisierung, dass „jeder ein Ketzer ist“, der nicht an das entsprechende Dogma glaubt, findet sich noch in esoterischen Glaubensformen, die ihre Magie angeblich nur dann entfalten, wenn man bedingungslos an sie glaubt. Zweifel und rationale Überprüfungen werden ausgeschlossen, weil die Theorien aus übernatürlichen Quellen stammen und ihre Herkunft und Legitimität gerade deshalb nicht in Frage gestellt werden darf. Besonders verschiedene Katastrophen- und Verschwörungstheorien bedienen sich dieser Abschottung.

Sie versprechen ein Wissen über die Zukunft, das die Berechnung von kommenden Ereignissen und damit die Verfügung über die Zukunft ermöglicht –  magisches Wunschdenken, das der Psyche des verträumten Vorschulkindes entspricht, das die Geschichten, die ihm erzählt werden, und die Realität, in der es lebt, nicht genau auseinanderhalten kann. Wenn Erwachsene solchen Verwechselungen erliegen, kann das mit einer unbewussten Flucht in dieses Lebensalter zusammenhängen. Wie weit solche Phänomene Verbreitung finden können, zeigt sich an der Hysterie um den angeblichen Weltuntergang am 21. Dezember 2012. Eine NASA-Webseite zur Astrobiologie erhielt in dieser Zeit Tausende von Anfragen, darunter Fragen, ob man sich selber, die Kinder oder die Haustiere umbringen sollte. Im Mai 2012 wurden bei einer Umfrage in 21 Ländern 16 000 Erwachsene befragt, von denen 8% berichteten, dass sie Angst angesichts eines möglichen Endes der Welt am 21. Dezember 2012 hätten. 10% stimmten der Aussage zu, dass der Maya-Kalender das Ende der Welt angebe. Bezeugt ist ein Selbstmord aus Angst vor dem angeblichen Weltuntergang, berichtet wurde von zahlreichen anderen. (Wikipedia)

Die Projektion von Allwissenheit und Allmacht auf Personen, Konstruktionen oder Theorien, z.B. bei der Idealisierung von bestimmten historischen Epochen, bei der Verwechslung von Mythen und realer Geschichte (etwa beim Mythos von Atlantis – ein bekanntes Beispiel der esoterischen Geschichtsschreibung) und bei pseudowissenschaftlichen Theoriegebäuden wird ein undifferenziertes kindliches Gemüt angesprochen, das sich von den Mühen der Rationalität entlasten will. Solche Projektionen dienen als Fluchtpunkt aus einer unbarmherzigen und unangenehmen Realität, die das mühevolle Aushalten von Ambivalenzen und Unsicherheiten einfordert.

Natürlich sollen wir unsere Fantasie und die unserer Kinder nicht limitieren. Sie ist frei, und sie muss frei bleiben, weil wir sie brauchen, um unsere Kreativität gedeihen zu lassen. Und solange Fantasie Fantasie und sonst gar nichts ist, sie ist über jede Kritik erhaben. Diese ist erst dort sinnvoll und notwendig, wo Produkte der Fantasie als Realität ausgegeben werden, was eine Form der Täuschung oder des Betrugs, also der Unredlichkeit darstellt, und damit Schaden bewirkt. Mit den narzisstischen Anfälligkeiten der Menschen Geschäfte zu machen, ist wohl nicht strafbar, aber ethisch bedenklich und hat rein gar nichts mit transrationaler Spiritualität zu tun. 


Literatur:
Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbsterkenntnis. Ecowin Verlag 2013
Arno Hraschan: Über Narzissmus. In: ATMAN-Zeitung 3/2013
Otto F. Kernberg: Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Schattauer Verlag 2006
Christopher Lasch: Das Zeitalter des Narzißmus. Bertelsmann Verlag 1982
Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Fischer 1984
Heinz-Peter Röhr: Die Narzißmusfalle. Deutscher Taschenbuch Verlag 2005

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