Donnerstag, 21. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Paradoxie


Absolute (transrationale) Wahrheiten sind in mehrfacher Hinsicht paradox. Wer sie ausspricht, ist sich dieser Paradoxie bewusst und kann die Paradoxie aushalten. Diese Fähigkeit erwächst zunächst aus der Rationalität, die sich bis an ihre eigenen Grenzen denken will. Dort löst sich die Eindeutigkeit auf, die zu stiften die Rationalität als ihre eigentliche Aufgabe angesehen hat. Zum Beispiel fand Immanuel Kant in den letzten Bereichen, die der Vernunft zugänglich sind, Antinomien, also Erkenntnisse, die sowohl in der einen Form wie auch in ihrer gegenteiligen Form vernünftig bewiesen werden können. Man könnte auch im Sinn von Hegel sagen, dass sich die Vernunft an ihren Grenzen selbst aufhebt.

Wenn sie zurücktritt und der transrationalen Erkenntnisform Platz macht, wird die Paradoxie zum Kennzeichen der Stimmigkeit. Sie besteht schon einfach darin, dass Unendliches in endlichen Worten, Freiheit in der Begrenztheit ausgesprochen wird. Viele Mystiker, aber auch Philosophen, beklagen die Unmöglichkeit, die zeitlosen Erfahrungen in einer an die Zeit gebundenen Sprache auszudrücken (vgl. Blog zur Sprache der Wahrheit).


Ein weiteres Element der Paradoxie besteht in Folgendem: Viele dieser Erfahrungen führen zu einer Auflösung der Körpererfahrung z.B. in einer grenzenlosen Weite oder in einer vollkommenen inneren Leere, Erfahrungen, die gleichwohl in einem Körper stattfinden. Es wird also beides zugleich erlebt: Ein Körper und ein Nicht-Körper. Deshalb ist es ein Charakteristikum von transrationalen Erfahrungen, dass sie diese Paradoxien beinhalten und ihnen Raum geben, weil das Transrationale das Rationale in sich enthält. Auch wenn das Transrationale als das Größere, Bedeutungsvollere oder Erfüllendere erlebt wird, weiß die erlebende Person um die Existenz der begrenzten Welt, und sie hegt dabei nicht den Wunsch, diese begrenzte Erfahrungswelt los werden zu wollen oder aus ihr entfliehen zu müssen. Im Gegenteil, durch die Besuche in den transrationalen Räumen wird die relative Welt immer wieder neu entdeckt und das Dasein in ihr immer mehr wertgeschätzt und in seiner Schönheit erkannt.

In der transrationalen Sphäre gibt es keine Körperverleugnung, -verachtung oder -kasteiung. Der Körper wird manchmal als „Tempel des Geistes“ bezeichnet oder als Quelle von Lebendigkeit und Freude erfahren. Er gilt als eine Ausdrucksform des Geistes, als Äußeres eines Inneren, das es (vermutlich) ohne das Äußere nicht gibt.


Die Angst vor der Rationalität


Auf der prärationalen Ebene wird dagegen Paradoxie als eine Form der Verwirrung erlebt und vermieden. Sie löst Angst aus. Aus dieser Angst nährt sich die Abwertung jeder Form von Rationalität, wie sie manchmal in der esoterischen Szene auftritt. Entgrenzende Erfahrungen sollten vor mentalen Konzeptualisierungen geschützt werden, und von daher kommt der manchmal geäußerte Imperativ, dass der Verstand oder das Ego zerstört oder zertrümmert werden muss, dass der „Kopf“ zum Schweigen gebracht werden muss usw. Die Aggressivität in dieser Sprache zeugt von einer Angst, die mentalen Fähigkeiten unseres Geistes könnten kaputt machen, was sich als kostbare Erfahrung jenseits des Verstandes gezeigt hat. Für die Vorstellung, dass eine reife Intelligenz in der Lage ist, eine umgreifende spirituelle Erfahrung anzuerkennen und wertzuschätzen, ist kein Platz.

Stattdessen wird dem Wiedererleben von dissoziativen Zuständen Tür und Tor geöffnet, weil es kein rationales Korrektiv gibt. Scheinbar spirituelle Erfahrungen wiederholen die Flucht aus der Wirklichkeit, wie sie einst im Traumamoment vor unerträglichen Schmerzen oder Leiden geschützt hat. Hier ist Heilungsarbeit notwendig, die oft mühsam, langwierig und schmerzhaft sein kann. Aber es führt kein Weg darum herum, alle Abschneider führen immer wieder zurück auf den Ausgangspunkt. Nur auf diesem Weg, der Abspaltung nach Abspaltung zusammenführt, kann die Ganzheit und innere Identität gefunden werden, in der Verbindung von lebendiger Emotionalität und klarer Rationalität.

Von dieser Basis ausgehend, öffnet sich dann wie von selber und in natürlicher Weise die transrationale Welt und die Erkenntnis der absoluten Wahrheiten. Das Leben wird als freier Tanz von Paradoxien erkannt, als ein immer wieder überraschendes Fließen vom Einen ins Andere.

Ein Zustand, wie er z.B. im Zen durch das unablässige Meditieren über „Koans“, also über paradoxe Aussagen erreicht werden soll, ermöglicht die Freiheit. Es ist ein Zustand, in dem die Wahrheit in der unmittelbaren Erfahrung auftaucht, die sich im nächsten Moment schon wieder verändert hat und in dem die Veränderung in ihrer Widersprüchlichkeit genossen werden kann. Das große Spiel des Lebens entfaltet sich in seinem Reichtum an Formen und Gestalten, frei von Erwartungen, Kontrollen und Zwängen. Die Emotionalität und die Rationalität dienen dabei als Spielzeug unter anderen. Das Eintauchen in ihre Relativität geschieht bewusst und die Rückverbindung an das Absolute geht nie wirklich verloren.


Die Aufgabe der Lehrer


Ein guter Lehrer braucht ein sicheres Gespür für Prä- und Transverwechslungen, für den Unterschied von Relativität und Absolutheit. So kann er die Schülerin auf alle die Fallen, die sich auf dem Weg versteckt halten, aufmerksam machen. Je freier er selber ist von den Antrieben der relativen Welt, von den Egomotiven und selbstsüchtigen Interessen, zu desto mehr Freiheit kann er seiner Schülerin verhelfen. Er braucht dafür den absoluten Respekt für die Einzigartigkeit des Weges, auf dem sich die Schülerin befinden, sodass er mit ihr lernt, wie sie sich Schritt für Schritt der Befreiung nähert und lernt, mit der Paradoxie umzugehen.


Vgl. Prä-Trans-Verwechslungen
Vgl. Narzissmus 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen