Mittwoch, 9. Oktober 2013

Die Hölle der Beziehungslosigkeit


"Die Hölle, das sind die anderen" heißt es in J.P. Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“.  Wie passt das damit zusammen, dass wir Menschen soziale Wesen sind, dass wir die Anbindung und den Kontakt zu anderen brauchen, um uns wohlzufühlen?

In Sartres Stück erzählen drei Tote von ihren Untaten und vom Scheitern. Sie sind in einem Raum eingeschlossen und gezwungen, einander zu ertragen, ohne Möglichkeit der Erlösung. Diese Personen sind in Verbindung miteinander, weil sie sich in einem Raum befinden und miteinander reden, aber sie schaffen es nicht, miteinander in Beziehung zu treten.

Die Hölle, das ist die Beziehungslosigkeit, das ist das Abgeschnittensein, die Isolierung. Wir sind zwar immer verbunden – dadurch, dass wir uns in der Welt bewegen –, aber es gibt Zustände, in denen wir uns nicht mit diesem Verbundensein verbinden können. 


Die Hölle des Alltags


Im Alltag passiert es laufend, dass sich Menschen über ihre schlechten Erfahrungen austauschen. „Mir ist das zugestoßen“, oder „Ich leide gerade an jener Erkrankung“. Sie wollen damit das Verständnis durch die andere Person erreichen und damit eine Verbindung herstellen, die das Leiden erleichtern soll. Die andere Person beginnt mit ihrer Leidensgeschichte und will das gleiche Verständnis erreichen wie die erste Person. Es stellt sich eine gewisse Gleichheit her, eine Symmetrie der Leidenszustände, die allerdings häufig durch das Konkurrenzieren, wer denn mehr leide, immer wieder in Frage gestellt wird. Es zeigt sich daran, dass die Beziehung durch den von beiden geteilten Wunsch zu bekommen geprägt ist, ohne dass ein Geben möglich ist, weil ja das Leiden so stark ist.

Die Verständigung besteht darin, dass sich jede Person in ihrem Leiden fortgesetzt bestärkt und absichert. Die Beziehung wird jedoch damit nicht wirklich hergestellt, beide sind in den Rahmen ihrer jeweils eigenen Problematik eingespannt, ohne den Rahmen der anderen Person zu verstehen und mitzufühlen. Der Wunsch, verstanden zu werden, bleibt durch die Unfähigkeit zu verstehen, auf der Strecke. Der Wunsch nach Beziehung findet durch das fortlaufende Mitteilen der eigenen Isolierung und des Unverstandenseins zu keiner Erfüllung. „Du verstehst mich nicht“ mobilisiert bei der angesprochenen Person deren eigene Erfahrungen mit dem Nicht-Verstandenwerden.


Das Netzwerk der Traumatisierten


Was passiert auf der unterschwelligen Ebene, wenn sich solche Beziehungsmuster abspulen? Zwei Menschen sprechen über ihre Traumatisierungen und lösen beim jeweils anderen dessen Traumatisierungen aus. Die Erfahrung in der Traumatisierung ist von starker Angst gekennzeichnet, und das bedeutet, sich völlig abgeschnitten zu fühlen von der Kraft des Lebens und von der Liebe anderer Menschen. Trauma bedeutet, dass keine Verbindung zur Verfügung steht, kein Zugang zu Ressourcen.

Diese Erfahrung wird unbewusst wieder inszeniert, angeleitet von dem Wunsch nach einer heilenden neuen Erfahrung, die endlich die Traumageschichte zum Abschluss bringen soll. Da aber dabei wieder nur ein Zustand der inneren Isolation reproduziert wird, kann die Heilung nur dann erfolgen, wenn die andere Person nicht in ihre eigenen Traumatisierungen kippt, sondern im Mitgefühl bleiben kann. Das wird ihr auf Dauer nur gelingen, wenn die eigenen Traumatisierungen weitgehend aufgearbeitet sind, sodass die unbewusst ablaufenden Trigger nicht mehr funktionieren.

Stimmt das wirklich? Die Menschen reden doch nur selten von wirklichen Traumatisierungen. Sie erzählen von Missgeschicken, von gemeinen und unfähigen Mitmenschen, von der Blödheit und Bosheit der anderen, von Missstimmungen, Unpässlichkeiten und Krankheiten, aber nicht von wirklich traumatischen Erfahrungen. Dennoch: Wir leiden nur deshalb unter dem, was andere Menschen tun oder nicht tun, sagen oder nicht sagen, weil dadurch frühe Verletzungen wachgerufen werden, die uns nicht mehr bewusst sein. Wir leiden nur deshalb unter unseren gesundheitlichen Problemen, weil sie Ängste auslösen, die mit alten seelischen Wunden zu tun haben. Hätten wir diese Erfahrungen in Frieden verabschiedet, so würde uns das Verhalten anderer Menschen genauso wenig aufregen wie unangenehme und schmerzhafte Vorgänge im Körper.

Nach meiner Erfahrung liegen die tiefsten Wurzeln von dem, was uns im Alltag aus der Bahn wirft, was uns also vergessen lässt, dass wir mit dem Leben verbunden sind, im pränatalen Bereich. Ein wichtiges Thema, das mit Anbindung zu tun hat, ist der emotionale Kontakt mit der Gebärmutter im engeren und mit der Mutter als Person im weiteren Sinn. Lehnt die Mutter die das neue Leben ab oder hat sie große Angst vor ihm, kann sich das auf die Gebärmutter so übertragen, dass der werdende Embryo keinen Kontakt spürt und sich nicht verbunden fühlt. Das kann Gefühle von Wut, Resignation und grenzenloser und trostloser Einsamkeit auslösen.

Es ist zwar eine Verbindung da, sonst könnte das Leben nicht weitergehen, doch kann die Beziehung nicht gefühlt werden. Das ist die Ursituation einer Doppelbindung. Eine nicht gefühlte Beziehung ist eine Nicht-Beziehung, eine Beziehung ohne Bezogensein. Die Wut signalisiert den Kampf gegen die Bedrohung, die von einer solchen Situation für die innere Stabilität ausgeht. Die Resignation zeigt die Ohnmacht, die Unfähigkeit, die Doppelbotschaft in eine eindeutige umzuwandeln. Die endlose Einsamkeit ist die Beschreibung des Zustandes, der übrigbleibt, wenn alle Hoffnung auf wirkliches, emotional erfülltes Leben fahren gelassen wurde. Was bleibt, ist ein (organisches) Leben ohne (gefühltes) Leben.

Menschen, die solche Zustände vor ihrer Geburt durchleben mussten, nehmen dann als selbstverständlich, dass die Welt diesem Erleben entsprechen muss. Von daher kommt vermutlich die immer wieder vertretene Ansicht, dass der Mensch ein Wesen ist, dem es vor allem um das egoistische Überleben geht, das er notfalls auf Kosten anderer vorantreibt. Sozialbeziehungen nimmt er auf, wenn sie seinem Überleben nützen, ansonsten braucht er sie nicht wirklich und kann jederzeit auf sie verzichten. Vgl. den Blog zum Thema Egoismus.

Menschen nehmen ihre eigene Beziehungslosigkeit als selbstverständlich, weil sie diese Erfahrung irgendwann im Lauf ihrer frühen Entwicklung gemacht haben. Sie bestätigen sich diese Auffassung beständig gegenseitig, indem sie ihre negative Weltsicht mit den anderen teilen und dafür Zustimmung erhalten. Sie bauen also ihre Sozialkontakte auf der Negation derselben auf. „Du stimmst mir doch zu, dass wir einander nur zufällig und vorübergehend kennen und wertschätzen, das dient nur dem Eigennutz, und das kann sich jederzeit ändern.“

Weiters bestätigen sie sich diese Weltsicht, indem sie Informationen über die Welt austauschen, die dieser Einschätzung entsprechen. Dazu zählen die Katastrophenfantasien  und andere Formen der Verbreitung von lokalen oder globalen Ängsten. Wenn wir die Ängste anderer mitbekommen, rührt das an unsere eigenen unbearbeiteten Traumatisierungen, ohne dass wir das mitbekommen. Wir verständigen uns darüber, dass die Welt eine Abfolge von Problemen ist, die im schlimmen Fall in Katastrophen münden. Die Nachrichten und Zeitungen liefern uns das Material dazu. Dabei melden sich, wenn auch vielleicht nur mehr schwach und im Hintergrund, die Gefühle, die sich in uns als Folge von Frühtraumatisierungen entwickelt und über die Zeit festgesetzt haben: Sinnlosigkeit, Resignation, Isolation – zur Wiener Gefühlsmelange fehlt nur mehr der Grant.

Es erschiene wie eine gesellschaftliche Verschwörung, aufgebaut auf einem unbewussten Netz von Traumatisierungen, wenn sie nicht so öffentlich wäre: So, als ob der Grundkonsens darin bestünde, dass das Leben eine Abfolge von Problemsituationen ist, anstrengend und schwer, und dass es niemanden gibt, der einem bei der Bewältigung der undankbaren Aufgabe zur Seite steht. Dieser Konsens wird fortlaufend wiederhergestellt und mit neuem Futter versorgt. Er sorgt zuverlässig dafür, dass möglichst viel an dem Schlimmen so bleibt, wie es ist, weil er jede Aktivität lähmt und jedes Engagement unterläuft.


Die Geschichte des Fremdlings


So erscheint die andere, die frohe Botschaft, die von Vertrauen und Lebensmut getragen ist, wie eine abgehobene Verrücktheit, als höchst seltene „Geschichte eines Fremdlings. Man braucht einen Fremdling, der die Geschichte eines Fremdlings hören kann.“ (Rumi, Von Allem und vom Einen, S. 187)

5 Kommentare:

  1. danke Wilfried, passt gerade sehr gut, berührt mich!

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  2. Danke, ich fühle mich ein Stückchen weit verstanden. Dass die Ursache für diese Unverbundenheit im pränatalen Bereich liegen soll...naja, wie will man das ernsthaft nachweisen?

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    1. Dafür gibt es viele Hinweise aus der klinischen Praxis, vor allem dann, wenn z.B. ein Abtreibungsversuch in der therapeutischen Erforschung auftaucht, den eine Mutter nachträglich bestätigt, und wenn dann durch die Aufarbeitung des Themas in der Therapie das Bindungsverhalten verbessert.
      Literatur: H.Levend, L. Janus: Bindung beginnt vor der Geburt (ISBN: 9783868090512)

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  3. Danke! Ich fühle mich auch verstanden. Ich frage mich,was ein wirklich gesundes geben&nehmen ist. Selbst Therapeuten nehme ich als z.T. bedürftig wahr. Wirklich helfen,zu mir selbst zu kommen und dadurch beziehungsfähiger zu sein....kann nur jemand,der mich nicht braucht,um seine Identität zu bestätigen.

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  4. Ja - danke! Ich fühle mich in so vielen Punkten gesehen und erkannt und dabei -trotz allem - geachtet. Ja, es ist schlimm wie es ist. Aber Sie schaffen auch Entlastung, diesen Augenblick lang jedenfalls.

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