Donnerstag, 30. Mai 2013

Perfektion und Perfektionismus

Perfektion bedeutet, dass etwas so vollkommen ist, dass es daran nichts mehr zu verändern gibt. Es ist gefertigt, also fertig gemacht, zu Ende gebracht, sodass nichts mehr zu tun ist. Alles weitere Tun würde dieser Vollkommenheit wiederum abträglich sein.

Perfektion ist eine Idee, die wir uns bilden, eine Idee, die für ein Ideal steht. Ein Ideal ist etwas, wonach wir streben, ohne es je zu erreichen, wie ein Ort, an den wir unbedingt gelangen wollen, aber, auch wenn er in Sichtweite ist, dennoch nie erreichen. Denn, sobald erreicht, verschwindet das Ideal und ein neues tut sich auf.

Perfektion gibt es also nicht in der Wirklichkeit, ebenso wenig wie das Ideale, das den Gegensatz zum Realen bildet. Nur wir Menschen kommen auf den Gedanken, dass etwas nicht vollkommen ist und deshalb erst vollkommen gemacht werden müsste. Die Natur benötigt dieses Konzept offensichtlich nicht. Zumindest können wir in ihr nichts Perfektes, aber auch nichts Imperfektes finden. Bäume wachsen ähnlich und unterschiedlich, manche gefallen uns besser und andere weniger, aber könnten wir wirklich sagen, dass dieser hier der vollkommene Ahornbaum ist? Vielleicht finden wir eine Rose besonders schön, aber haben wir je die vollkommene Rose gesehen?

Jedes Naturwesen entwickelt sich gemäß dem ihm innewohnenden Programm, in Abstimmung mit den äußeren Umständen, den Hindernissen und Ressourcen, die vorhanden sind. Ein Entwicklungszyklus kann lange dauern, z.B. eine Löwin, die in freier Wildbahn zwanzig oder im Zoo dreißig Jahre alt wird und dann stirbt, oder kürzer, wie ein Eisbär, der mangels Nahrung schon nach zwei Jahren verendet. Auch hier ergibt der Begriff der Perfektion keinen Sinn.

Also ist stammt Idee der Perfektion aus den Überschüssen, die unser Großhirn durch seine reiche Ausstattung mit frei gestaltbaren Bereichen produzieren kann. Es kann zu jedem wahrnehmbaren Zustand einen besseren fantasieren. Die Blüte könnte noch größer, der Apfel noch runder sein, der Sonnenuntergang noch prächtiger und der Himmel noch blauer.

Leiden am Perfektionismus


Die Idee der Vollkommenheit kann uns zum Problem werden, wenn wir sie auf uns selber anwenden. Das nennen wir dann Perfektionismus. Die Vorstellung, vollkommen sein zu müssen, und die Erkenntnis, es nicht zu sein, schaffen eine Spannung, die unerträglich werden kann und damit krank macht, also die betroffene Person noch weiter von der Vollkommenheit entfernt.

Die Psychologie unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus:
1.    Perfektionistisches Streben: Damit sind die Eigenschaften, hohe persönliche Ziele mit einem ausgeprägten Maß an Organisiertheit anzustreben.
2.    Perfektionistische Besorgnis: Hier sind Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit, hohe Erwartungen an Fehlerlosigkeit und auch die Angst vor Bewertungen gemeint.
Kommt beides zusammen, lähmt sich der Mensch selber. Er will alles in höchster Qualität verwirklichen und zweifelt gleichzeitig daran, es jemals zu schaffen. Bei jedem Fehler und bei jedem Versagen macht er sich selber fertig. Es entsteht ein Teufelskreis aus Selbstanklagen, die wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit so weit untergraben, dass Fehlschläge und Misserfolge unausweichlich werden.

Dahinter stecken Ablehnungen in unserem Sosein, die wir im Lauf unserer Entwicklung erlitten haben. Je früher, desto tiefer sitzt die Abwertung, weil wir über keine Filter, keine anderen Kontexte und keine Vergleiche verfügen. Ablehnende Botschaften gehen direkt in die tieferen Schichten unseres Bewusstseins und Unterbewusstseins und geben uns das Gefühl der Unvollkommenheit. Wir wundern uns dann nicht, wenn wir ähnlich lautende Botschaften in der Erziehung, Schule und im beruflichen Umfeld hören, die uns klarmachen, wie viel uns zur Perfektion fehlt.

Die Kultur ist durchtränkt von diesem Muster, so als wollte sie sich damit noch zusätzlich von der Natur unterscheiden. Wir wollen nicht einfach nur sein, wir wollen besser sein. Wir müssen mehr aus uns machen, wir müssen uns strebend bemühen, sonst gibt’s keine Erlösung. Leider gibt es niemanden, der uns zuverlässig mitteilen kann, wann wir uns genug bemüht haben. Also steht es uns nicht zu, uns irgendwann zur Ruhe zu setzen, denn wir haben immer noch zu wenig aus uns gemacht und sind noch immer nicht bei der Vollkommenheit angelangt.

So wird der Perfektionismus ein mächtiges Instrument der Selbstsabotage. Der Mechanismus wird uns eingebaut, und wir füttern ihn fleißig, und so wird er größer und größer. Wir können ihn auf einen Bereich beschränken, was z.B. unsere Arbeit anbetrifft, oder wir erweitern ihn auch auf andere Aspekte unseres Lebens, auf die Pflege der Zimmerpflanzen und der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Er ist der Versuch einer Selbstrettung, mit der wir uns wie Münchhausen aus dem Sumpf ziehen möchten. Er ist dysfunktional, weil er ein zusätzliches Hindernis aufbaut, dorthin zu gelangen, wo wir hinwollen. Er erzeugt eine innere Anspannung, die unsere Kräfte lähmt und unsere Kreativität versiegen lässt. So geraten wir in das Paradoxon, dass wir, je perfekter wir werden wollen, desto unvollkommener werden. Je näher wir uns an das Ideal heranmühen, desto weiter entfernt es sich von uns. Wir rennen einer Karotte nach, die vor unserer Nase baumelt, und wir wissen, dass wir sie nie erwischen werden, aber etwas in uns sagt, dass wir trotzdem weiter dranbleiben müssen, koste es, was es wolle.

Unter dem Stress, den uns der Druck des Perfektionismus macht, neigen wir dazu, auf die alten, immer gleichen starren Muster zurückzugreifen. Wir scheuen uns vor Experimenten, vor jedem Neuen, und behindern dadurch das, was aus unserem Inneren nach außen will. Was lassen wir da schon durch die Schranke unserer Selbstabwertungen durch? Wo geben wir dann noch unserer Kreativität eine Chance? „Ich kann ja nicht (oder nicht gut genug) singen, ich kann ja nicht malen, nicht tanzen oder Gedichte schreiben.“ Also halte ich lieber meinen Mund und riskiere keine Blamage, indem ich all die Ideen in mir begrabe.

Das Hirngespinst des Perfektionismus


Und doch ist unser Perfektionismus bloß auf eine Idee gegründet, die wir in unserem Kopf gebildet und genährt haben. Wenn es uns gelingt, diese Idee als Hirngespinst zu durchschauen, können wir sie hinter uns zu lassen. Dann stehen wir uns selbst nicht mehr im Weg. Vielmehr kann sich das Leben von selber entfalten, und wir wirken dabei mit unseren Fähigkeiten und Energien mit. Wo ein Stück der Anspannung, die uns der Perfektionismus auferlegt, abfällt, entsteht ein Freiraum für die Selbst-Entfaltung unserer Schaffenskraft, unserer Kreativität. Wenn wir loslassen, steigen die Ideen von selbst in diesem Raum auf. Wir brauchen uns nur dem Fluss des Lebens und seinem Wachsenwollen anzuvertrauen.

Wachstum geschieht aus sich heraus. Leben ist Veränderung, und bewusste Veränderung zielt auf Verbesserung. Was wir dazu beitragen können, ist vor allem, dass wir die hinderlichen Muster, die wir als Überlebensstrategien aus unserer frühen Kindheit mit uns schleppen, in unser Bewusstsein holen und uns dann ihrer entledigen. Dann finden wir zurück zu einem ganz ursprünglichen Wissen über uns selbst: Dass wir gut so sind, wie wir sind und dass wir uns gut in eine Richtung weiter entwickeln, die für uns und für die Welt gut ist.

Anmerkung zu den Worten


Im lateinischen Wort perfectio steckt das Tun, es liegt also eine Betonung auf der Aktivität, allerdings einer schon abgeschlossenen; im Deutschen enthält das Wort Vollkommenheit das Kommen: etwas Volles ist gekommen oder soll kommen. Damit wird weniger auf das Handeln, sondern eher auf das Zulassen verwiesen. Die Vollkommenheit ist nicht herzustellen, sie wird uns irgendwann einmal oder jetzt gerade, in diesem Moment, erreichen. Und dann ist das Leben voll.


Vgl. Das Drama des Perfektionisten

Mittwoch, 22. Mai 2013

Sind wir zwei oder eins? Über Dualitäten und Illusionen

Die meisten Religionen neigen zu einem dualen Ansatz: Es gibt den Leib und es gibt die Seele. Die beiden bilden zusammen für eine Zeit lang ein Wesen, den Menschen. Der Mensch stirbt dann, und anschließend gehen beide wieder getrennte Wege. Sobald in der Menschheit Ideen, die mit einer Weiterexistenz der Seele nach dem Tod zu tun haben, auftauchen, wird davon ausgegangen, dass der Mensch, der vorher eins war, in zwei Teile zerfällt, einen Leichnam, der verwest, und eine Seele, die weiter existiert, sei es in einem Jenseits oder in einer Wiedergeburt.

Das ist ja nur möglich, wenn der Mensch von Anfang an und grundsätzlich als zweigeteilt betrachtet wird, also aus zwei äußerst unterschiedlichen Teilen bestehend. Der eine, so heißt es, ist materiell, der andere immateriell oder geistig. Geist ist das, was nicht materiell ist, und Materie ist das, was nicht geistig ist. Beide definieren sich dadurch, dass sie nicht das jeweils Andere sind.

Manche Religionen (z.B. Hinduismus oder Buddhismus) nehmen dazu noch die Vorstellung, dass die Seele, weil sie sich ja auch nach dem Tod vom Körper trennen kann, anfangs schon von irgendwo anders in den Körper hineinkommt. Da kann es sein, dass sie, wie in der Reinkarnationslehre, schon andere Körper vorher als Aufenthaltsort hatte, oder dass sie, wie in anderen esoterischen Richtungen behauptet wird, aus einer geistigen Welt in die materielle „herab“-steigt.

Fragen an die Dualität


Die Rede von „Orten“ oder „Räumen“ und von räumlichen Richtungen („hinauf“ und „hinunter“) macht uns auf die Schwierigkeit aufmerksam, wie wir uns Geistiges anders als materiell vorstellen  könnten. Denn im Grund stellen wir uns dabei die Seele wie ein Ding vor, nur ohne „Ablaufdatum“. Der französische Philosoph René Descartes hat dementsprechend zwei Arten von Dingen unterschieden, die ausgedehnten und die nicht ausgedehnten, aber Dinge sind es allemal. Wie sollen wir aber zu etwas in Bezug gehen, das weder im Raum noch in der Zeit aufscheint?

Eine andere Problematik mit dem Konzept der Leib-Seele-Dualität liegt darin, dass davon ausgegangen wird, dass die Seele in ihrer irdischen Existenz Veränderungen unterworfen ist.
Sie wird im Lauf des Lebens von den Erfahrungen beeinflusst, die zusammen mit dem Körper gesammelt werden, soll aber trotzdem unabhängig von ihm bleiben, sodass sie sich, nachdem der Körper seine Funktionen aufgegeben hat, von ihm verabschieden kann, ohne daran groß Schaden oder Nutzen zu nehmen. Sie nimmt also offenbar die durch die materielle Existenz gesammelten Erfahrungen mit, allerdings ohne den zugehörigen Körper, der ja diese Erfahrungen mit erzeugt hat. Wie die Umwandlung einer körperlich-geistigen Information in eine rein geistige vonstattengehen soll, ohne dass dabei etwas verloren oder verzerrt wird, bleibt der puren Fantasie überlassen.

Es werden allerdings nach verschiedenen Anschauungen diese gesammelten Lebenserfahrungen beim Weiterleben der vom Körper abgetrennten Seele benötigt, da sie die Grundlage dafür darstellen, wie die Seele nach dem Abschied vom Körper von einer höheren Instanz beurteilt wird. Sie soll ja nach dieser Beurteilung entweder, wie im Christentum, Himmel, Hölle oder Fegefeuer zugeteilt zu bekommen oder, wie im Hinduismus und Buddhismus, für die Existenzform in der nächsten Inkarnation eingestuft wird, also z.B. als Brahmane oder als Regenwurm. Abgesehen von der Frage, wie aus der riesigen Menge an Daten, die sich aus den vielfältigen Erfahrungen ergeben, die ein Mensch im Lauf seines Lebens sammelt, ein zutreffendes und gerechtes Urteil gefällt werden kann, das einer Menschenseele dann auch plausibel erscheint, abgesehen also von der Frage einer fairen Bewertung eines ganzen Lebens, bleibt uns nur die Spekulation zu erklären, wie die entsprechenden Daten überhaupt über den Tod des Körpers, der sie abgespeichert hat, gerettet werden können.

Eine weitere Frage stellt sich: Was verbindet denn anfangs die Seele mit dem Körper? Es muss ja etwas geben, das dafür sorgt, dass die Seele beim oder im Körper bleibt, und etwas, das sie dann wieder freigibt, wenn der Körper sein Leben aushaucht. Was ist das für ein „Kleber“, der mit der Zeit müde wird, bis auseinanderbricht, was er zusammengehalten hat? Sind das die Gefühle, die wir einerseits seelisch und andererseits körperlich erleben? Woher kommen aber diese und wohin gehen sie, wenn es nur zwei Wesenseinheiten gibt? Wenn es eben zwei getrennte Wesenseinheiten gibt, wie soll da etwas existieren können, was in beiden gleichermaßen vorhanden ist – das wäre ja dann eine dritte Wesenheit?

Welche Form von Leben ist es, über die die Seele zum Unterschied vom Körper verfügt? Außer dass es eine „ewige“ Form sein soll, gibt es darüber keine Aussagen. Wir kennen ja sonst nur Formen von Leben, die in belebten, also auch materiellen Wesen stattfinden. Leben beinhaltet z.B. Stoffwechsel und Fortpflanzung. Verfügt die Seele über Stoffe, die getauscht werden und pflanzt sie sich fort? Offenbar nicht. Wie diese nichtmaterielle Lebensform beschaffen ist, können wir wiederum nur in unserer Fantasie ausmalen.

Ohne vorgefasste Konzepte


Und so weiter – es gibt jede Menge ungelöster Fragen an die Dualitätslehren. Probieren wir den radikalen Schnitt und verzichten wir auf die Konzepte aus den verschiedenen religiösen, esoterischen und ideologischen Gedankengebäuden. Was bleibt dann noch übrig?

Gehen wir einmal davon aus, dass dieses „Leben der Seele ohne Körper“ ein Produkt unserer kreativen Fantasie ist, so wie wir uns vorstellen können, dass Steine herumgehen oder Teppiche fliegen. Könnte es sein, dass wir selbst in unserer Fantasie und in unseren Träumen nie aus der materiellen Raum-Zeit herauskommen können, weil unser gesamtes Informationsverarbeitungssystem aus raum-zeitlichen Komponenten besteht (unser Gehirn und unsere Wahrnehmungsorgane enthalten jede Menge Materie)? Zwar sind Informationen immateriell, tauchen aber nirgends unabhängig von Materie auf, sondern gewissermaßen als deren Inneres oder deren Rückseite (das sind natürlich auch schon wieder räumliche Begriffe), die wir nie direkt wahrnehmen können (weil unsere Wahrnehmung nur Gegenständliches erkennt), sondern bloß an ihrer Wirkung erkennen und mit Hilfe dieser Erkenntnis verarbeiten. Die Verarbeitung ist dann wiederum ein materiell-immaterieller Vorgang.

Also gewinnen wir all unser Wissen und auch all unser Glauben aus diesem ineinander verflochtenen Interagieren und Zusammenarbeiten von Materie und Geist. Wie sollen wir uns da eine sinn- und gehaltvolle Vorstellung machen von einem Zustand, in dem eine Komponente dieser Einheit aufgibt und verschwindet? Das wäre so wie wenn wir uns vorstellen, dass der Boden, auf dem wir stehen, weggezogen wird, und dabei zu meinen, dass wir an der gleichen Stelle bleiben können. Wir können die Schwerkraft zwar wegdenken, müssen aber zugeben, dass ein Zustand ohne sie ein reines Gedankenspiel ist, bei dem die Wirklichkeit nicht mittut. Wie also soll die Wirklichkeit mittun, wenn wir uns wünschen, dass eine Seite unserer Leib-Seele-Dualität übrigbleibt, wenn die andere ihren unvermeidlichen Gang in die Verwesung antritt?

Dualität und Dissoziation


An diesem Punkt übergibt der Philosoph an den Psychotherapeuten. Es heißt, die Seele geht rein in den Körper und dann wieder raus. Natürlich erinnert das frappant an den Vorgang der Dissoziation, der eine Reaktion des Nervensystems auf traumatische Erfahrungen darstellt. Passiert ein Trauma, geht die Bewusstheit raus aus dem Körper, und wenn sich dieser wieder beruhigt, geht das Bewusstsein wieder hinein. Weil wir alle diese Erfahrung kennen, übertragen wir dieses Konzept auf unsere Vorstellung von der Seele?

Menschen mit Nahtoderfahrung berichten z.B., dass sie in diesem Zustand keine der üblichen Gefühle (Schmerz, Angst, Wut...) erlebt haben. Für die Ähnlichkeiten zwischen außerkörperlichen Erfahrungen und Dissoziation gibt es wissenschaftliche Belege. Außerkörperliche Erfahrungen, die in Nahtoderfahrungen auftreten können, gleichen den Dissoziationen, die nach Stresserfahrungen auftauchen und die als normal betrachtet werden. Psychiatrische Fälle von Dissoziationen weisen wesentlich stärkere Symptome auf.

Wir können den Vorgang folgendermaßen interpretieren: Der Körper existiert selber in Raum und Zeit, und ebenso seine sinnlichen Wahrnehmungsvorgänge, von denen er abhängig ist. Zu außerkörperlichen Erfahrung kommt es, wenn der Körper ein Notfallprogramm aktiviert und damit die normalen Informationsverarbeitungsvorgänge, also auch die normale Wahrnehmung abschaltet. Damit tritt die Bindung an Raum und Zeit in den Hintergrund, und die Erfahrung einer frei vom Körper losgelösten Seele entsteht als eigene Wirklichkeit. Sie verschwindet aber wieder, wenn sich der Bewusstseinszustand wieder normalisiert.

Wir interpretieren dann unser Erleben so, dass die Seele den Körper verlassen hat und dann wieder zurückgekehrt ist. Allerdings geschah dieses Erleben innerhalb eines Körpers und beruhte auf einer Sinnestäuschung, die als Folge der extremen Belastung des Organismus in der Traumasituation entstanden ist. Ähnlich wie durch die Unterbrechung der Schmerzleitung im Organismus bei einem schweren Unfall dem Bewusstsein vorgetäuscht wird, es wäre nichts Ernsthaftes passiert, suggeriert der traumatisierte Organismus dem Bewusstsein, dass alles in Ordnung ist, weil die „Seele“ jetzt alles von oben aus einer sicheren Distanz beobachten kann.

Solange wir im Körper sind, brauchen wir die Realitätskonstruktion, die mit Raum und Zeit verbunden ist. Wir können einen außerkörperlichen Erfahrungszustand nur fantasieren und konstruieren. Wenn der Körper unter maximalen Stress gerät wie in einer lebensbedrohlichen Situation nach einem Unfall, schaltet sich offenbar die raumzeitliche Wahrnehmung ab und es kommt zu einem Zustand des erweiterten Bewusstseins, in dem besondere Fantasien gebildet werden.

Diese ähneln solchen, die wir auch in tiefer Meditation erfahren können: Alles ist verbunden, alles ist eins, alles ist gut. Der wichtige Unterschied liegt darin, dass die eigentlich spirituelle Erfahrung im Körper verankert ist und nur dadurch eine ganzheitliche sein kann. Jede Erfahrung, die eine Trennung vom Körper enthält, ist keine spirituelle Öffnung, sondern nur die Wiederholung einer Dissoziationserfahrung. Also, im Sinn der Prä-Trans-Verwechslung nach Ken Wilber, sind Dualitätserfahrungen keine spirituellen transpersonalen Erfahrungen, sondern gehören in den präpersonalen Bereich.

Vielleicht reden wir deshalb so leicht und selbstverständlich von paradiesischen Zuständen, die dereinst auf uns warten, weil sie uns zumindest ansatzweise von dissoziativen Erfahrungen bekannt sind? Vielleicht lassen sich deshalb noch immer Menschen mit Versprechungen auf jenseitige paradiesische Freuden zu Taten verleiten, die anderen Menschen die Hölle auf Erden bereiten (wenn sie, wie die Kreuzritter, in Jerusalem ein Blutbad anrichten oder wie Selbstmordattentäter, Schulbusse in die Luft sprengen)?

Vielleicht ist auch diese Dualität, nämlich die von Himmel und Hölle, eine kondensierte Traumageschichte – auf der einen Seite die Hölle als Widerspiegelung aller traumatischen Erfahrungen, auf der anderen Seite der Aufstieg in den Himmel als Erinnerung an alle Dissoziationserfahrungen?

Was ohne Dualität und ohne Illusion bleibt


Jetzt zum „Gegenmodell“: Was bleibt denn, wenn wir auf die Grunddualität von Leib und Seele verzichten?

Jeder Mensch entsteht aus einer Materie-Geist-Samenzelle und einer Materie-Geist-Eizelle. Bei der Empfängnis bildet sich ein neues, einzigartiges Individuum, in einer einzigartigen Einheit von Materie und Geist. Diese Einheit bildet ein individuelles Einheitsbewusstsein. Belastende und nicht integrierbare Erfahrungen reißen es auseinander, sodass ein Dualitätsbewusstsein an die Seite des ursprünglichen Einheitsbewusstseins tritt. Im späteren Leben entwickeln sich auf dieser Grundlage in Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Kulturmustern der Familie und Gesellschaft, in die das Individuum geboren wird, duale Weltbilder und Religionsanschauungen. Diese haben die Funktion, für die erlittenen Verwundungen und Verletzungen Trost und Hoffnung zu spenden. In dem Maß jedoch, in dem die frühen Störungen geheilt werden, schwindet das Bedürfnis nach dualen Modellen der Welterklärung. Die ganzheitliche körperlich-geistige Erfahrung im jeweiligen Moment gewinnt immer mehr Bedeutung.

In gleichem Maß wird die Frage nach dem, was nach dem Tod sein wird, irrelevant. Der Tod selber gehört zur Ganzheit des Lebens. Er birgt ein Geheimnis, das nur scheinbar in der Fantasie gelüftet werden kann, als Schreckens- oder Wunschvorstellung, je nachdem. Denn das Geheimnis bleibt, weil es Teil unseres Menschseins ist, das es zu akzeptieren gilt. Wir können nämlich als Körper-Geist-Wesen nichts von unserem Nicht-mehr- Körper-Geist-Wesen-Sein wissen, weil eben jedes Wissen, über das wir verfügen, aus dieser Einheit von Körper und Geist erwächst, die wir sind.

Wir stoßen hier an eine absolute Grenze unserer Einsichtsmöglichkeiten, die sich nur unser Stolz und unsere Überheblichkeit nicht gefallen lassen will. So vermeinen wir, über das Ganze unseres Lebens verfügen zu können, indem wir zumindest voraus wissen könnten, was nach dem Tod „mit uns“ geschieht. Wenn wir dagegen die absolute Ohnmacht zulassen, die mit dem Sterbenmüssen ohne jede Sicherheit und ohne jede Aussicht auf ein Danach verbunden ist, können wir auf all diese Illusionen verzichten. Dann durchschauen wir sie als bloße Hilfskonstruktionen, die uns im Diesseits helfen sollen, besser mit dem Leben zurecht zu kommen, die aber keinen Aussagewert über das Jenseits haben.

Gelingt es uns, auf diese Konstrukte zu verzichten, haben wir die Freiheit gewonnen, die darin liegt, dass zumindest eine der „letzten Fragen“ ihren Sinn verloren hat. Wir müssen nichts wissen über das, was nach dem Ende der Körper-Seele-Einheit, die wir sind, passiert. Wir brauchen dafür auch keinen Glauben, wenn wir uns bescheiden mit dem, was uns die gegenwärtige Erfahrung in jedem Moment bieten kann an Schönheiten und an Herausforderungen.

Vgl. zur Ähnlichkeit von Nahtoderfahrungen und Dissoziationen: http://folk.uio.no/benjamil/neardeath/neardeath_psych2.pdf

Dienstag, 14. Mai 2013

Die Freiheit der Kunst und die religiösen Gefühle

Ein Eklat bei den Wiener Festwochen: Einige der Theaterbesucher waren von einem Stück und seiner Inszenierung entsetzt und äußerten ihre Empörung lautstark während der Aufführung. Solches erinnert an den Aufruhr um dänische Karikaturen des Propheten Mohammed oder das Todesurteil gegen den Schriftsteller Salman Rushdie: Bestimmte Kunstwerke verletzen die religiösen Gefühle und sollen deshalb nach der Meinung der Betroffenen verboten werden, die dann, wenn sie besonders radikal eingestellt sind, fordern, dass die Urheber der Kunstwerke bestraft werden.

Es geht hier nicht um die Frage, ob solche Strafen gerechtfertigt wären. Solche Ansätze möchte ich nicht einmal diskutieren. Hier geht es darum, ob sich die Kunst erlauben darf, Gefühle von Menschen zu verletzen. Gibt es Grenzen der Empfindlichkeit, welche die Kunst respektieren muss?

Sicher darf es nicht sein, dass die Kunst jemanden persönlich beleidigt, das sollte prinzipiell niemand absichtlich tun. Manchmal geschieht es allerdings, dass jemand beleidigt ist, ohne dass wir das wollen. Menschen haben die unterschiedlichsten Sensibilitäten, und nicht jeder kann in seinen Handlungen auf alle anderen gleichermaßen Rücksicht nehmen. Deshalb wird es immer wieder zu Betroffenheiten kommen, die zu Konflikten führen. Solche Auseinandersetzungen können jedoch mit den Mitteln einer dialogisch agierenden Zivilgesellschaft friedlich beigelegt werden.


Stellvertretende Gefühle


Mit den religiösen Gefühlen ist es ein wenig komplizierter. Was sind das überhaupt für Gefühle? Jemand fühlt sich persönlich beleidigt, wenn Inhalte des eigenen Glaubens von jemand anderem beleidigt werden. Ein Anhänger Mohammeds ist persönlich betroffen, wenn jemand den Propheten beschimpft oder lächerlich macht. Er übernimmt eine Stellvertretung, die so weit gehen kann, die Beleidigung zu rächen. Die beleidigte Person, in diesem Fall Mohammed, wurde aber nicht befragt, ob sie selber von der Verletzung betroffen ist und überhaupt eine Rache braucht oder gutheißen kann. Es werden also Stellvertreter-Gefühle verletzt, und die mit der Beleidigung gemeinte Person hat gar keine Möglichkeit, die Stellvertretung zu akzeptieren oder abzulehnen. Es handelt sich also um eine selbstangemaßte Stellvertretung, die sich hier empört und die sich auf religiöse Gefühle beruft.

Wenn auf einer Bühne ein Jesusbild mit „Handgranaten aus Plastik“ beworfen wird, wie kürzlich in Wien geschehen, kann man das interessant oder geschmacklos finden, ohne dass dabei religiöse Gefühle betroffen sein müssen. Jedem, der an Jesus glaubt, müsste wohl klar sein, dass dieser als göttliches Wesen von solchen Aktionen nicht betroffen sein kann. Nur ein schwaches Ego leidet an Beleidigungen.

Jedem allerdings, der nur an ein Jesusbild glaubt, kann das aufs Gemüt gehen. Der Glaube an Bilder wird ja in manchen Traditionen als Häresie, als Ketzerei angesehen, er ist jedoch weit verbreitet, wenn nicht überhaupt die vorherrschende Form des religiösen Glaubens. Denn an ein Bild zu glauben ist einfacher und bequemer, als an einen Gottmenschen, der den Menschen den Spiegel vorhält, der Forderungen stellt, der Gewohnheiten aufrüttelt. Eine „herabwürdigende“  Darstellung kann deshalb so stark irritieren, weil dem Bildgläubigen das beschmutzte Bild nicht mehr die Sicherheit geben kann, die er von ihm braucht. Das Bild muss heil und unversehrt bleiben, nur so bleibt auch sein Glaube heil und unversehrt.

Der Identifikationsgläubige will das Objekt seines Glaubens auf das Bild festnageln, das er sich von ihm gemacht hat. Es soll so sein und bleiben, wie er es braucht. Es darf nicht frei sein, sonst müsste die eigene Unfreiheit erkannt werden. Die Identifikation mit einem Bild müsste durch Vertrauen in ein lebendiges und freies Gegenüber ersetzt werden.

Die Stifter von Religionen waren nicht deshalb erfolgreich, weil sie mustergültig ein Leben im Rahmen der herrschenden Konventionen gelebt haben, nicht deshalb, weil sie sich den Bildern, die ihnen vorgegeben wurden, angepasst haben, sondern weil sie aus der Rolle gefallen sind, überraschend, provozierend, schockierend.

Welche Religion meinen also die von Kunst Schockierten, wenn sie sich auf ihre verletzten religiösen Gefühle berufen? Sicher nicht eine Religion, die selber schockieren will. Können sie in ihrer Empörung an einen Jesus glauben, der selber Empörung in einem Ausmaß erregt hat, dass er dafür hingerichtet wurde?

Ein wahrhafter Gottsucher allerdings, also einer, der die Bilder in sich selber gestürmt hat, weiß um die Größe und auch die Radikalität der Botschaft, die durch kein menschliches Argument und durch keine menschliche Aktion verkleinert werden kann. Die Kleingläubigen dagegen richten die Aggression nach außen, statt den eigenen Glauben zu überdenken und zu vertiefen. Die Beschimpfer werden beschimpft, die Bekämpfer bekämpft. 


Die Kunst ist frei


Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat die Kunst, wie die Philosophie und die Religion, der Sphäre des absoluten Geistes zugeordnet. Damit hat er gemeint, dass sie die Wirklichkeit in einer nicht-alltäglichen Weise reflektiert, also zur Darstellung bringt, um uns, den Konsumenten der Kunst, zu einer neuen Sicht dieser Wirklichkeit zu verhelfen. Kunst verändert also den betrachtenden Menschen. Je besser die Kunst, desto tiefgreifender ist die Veränderung.

Kunst als Ausdruck des absoluten Geistes ist nicht in den Kategorien der Alltagswelt zu deuten. Deshalb kann sie nicht beleidigen, wie das Menschen untereinander tun. Sie kann provozieren, d.h. Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten in Frage stellen (dekonstruieren). Sie greift damit aber nicht einzelne Menschen persönlich an, sondern alle gleichermaßen. Jeder ist anders betroffen, aber die Botschaft ist die gleiche, wie Rilke in Anbetracht einer archaischen griechischen Plastik formuliert hat: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht: du musst dein Leben ändern.“

Wenn wir mit einem solchen Anspruch auf Veränderung konfrontiert werden, neigen wir dazu, uns zur Wehr zu setzen: „Wieso soll ich mein Leben ändern, es läuft doch alles gut, ich mache doch alles richtig…“ Ändern ist anstrengend und riskant, weil ich nicht weiß, wo mich die Veränderung hinführt.  Allerdings ist das Leben Veränderung, der Stillstand und die Erstarrung ist das Prinzip des Todes. Wenn wir uns für das Leben entscheiden, entscheiden wir uns für die permanente Veränderung. Dazu gehört auch, dass Beleidigungen passieren, und dass wir lernen, mit ihnen so umzugehen, dass wir nicht selber zu Beleidigern werden. Dazu müssen wir uns ändern.

Die Kunst kann diese Funktion nur ausführen, wenn sie frei ist, d.h. wenn sie nicht von außerhalb der Kunst gemaßregelt oder zensuriert wird. Staatlich oder kirchlich verordnete und zurechtgestutzte Kunst ist keine Kunst mehr, sondern Propaganda. Deshalb unterdrücken alle autoritären Regime die Freiheit der Kunst. Und deshalb sind alle demokratischen Staaten erfolgreicher, weil sie der künstlerischen Kreativität einen Freiraum zubilligen und damit einen dauernd wirkenden Stachel der Veränderung zulassen. Je größer dieser Freiraum ist, desto größer ist der Freiraum der gesamten Gesellschaft.


Die Freiheit der Religion


Auch die Religion gehört in den Bereich des absoluten Geistes. Auch sie fordert heraus zur Veränderung, auch sie will in den Ablauf des täglichen Lebens und in seine Gewohnheiten eingreifen. Sie kann das nur, wenn sie in diese nicht hineinverflochten ist, wenn sie frei ist von den menschlichen Kleinlichkeiten.

Deshalb kann auch eine Religion, eine religiöse Lehre oder eine religiöse Gestalt nicht beleidigt werden. Beschimpfungen und „Herabwürdigungen“ gehen ins Leere. Sie treffen nur die, die ihre eigene Unfreiheit als Religion verbrämen. Die Religion ist frei wie die Kunst und spielt in einer anderen Liga als die allzu menschlichen Leidenschaften und Gewohnheiten.  Sie fordert dazu auf, dass wir uns gegenseitig nicht beleidigen und beleidigen lassen. Das kann sie nur, wenn sie auf Beleidigungen nicht beleidigt reagiert, sondern gelassen und verständnisvoll bleiben kann, gleich, ob das gefällt, was die Menschen aufführen. 


Vgl. Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen?
Religiöse Gefühle versus Meinungsfreiheit 

Montag, 6. Mai 2013

Quantenphysik und Quantenheilung - zwei Paar Schuhe

Quantenheilung, Quantenatmung, Quantum Tao, Quantum Touch, Chinesische Quantum-Methode, Quantenbewusstsein,…. Der Psychomarkt hat sich verliebt in einen Begriff, den der Physiker Max Planck 1900 eingeführt hat. Was hat es mit den Quanten auf sich?

Die Physik hat einige seltsame Entdeckungen im Reich der Quanten (oder der Photonen, wie sie heute genannt werden) gemacht. Teilchen können an einem Ort und gleichzeitig an einem anderen sein. Der Beobachter beeinflusst das, was er beobachtet. Teilchen reagieren aufeinander über Entfernungen, ohne dass dabei Zeit verstreicht (Quantenverschränkung, Quantenteleportation). Es war die Rede von Quantensprüngen, Veränderungen, die blitzschnell erfolgen und bei denen während der Veränderung nichts über den Zustand erkannt werden kann.

Unser alltägliches Denken als Nicht-PhysikerInnen kommt da nicht mehr mit. Wir staunen. Wir sind beeindruckt und fasziniert. Damit gewinnt der Begriff der Quanten den Glanz des Geheimnisses.

Wenn wir in die Welt der Psyche einsteigen und die tieferen Schichten erforschen, kommen wir auch ins Staunen, sind beeindruckt und fasziniert, was sich da verändern kann. Manchmal haben wir sogar den Eindruck, dass ein Sprung auf eine neue Bewusstseinsstufe oder in eine neue Freiheit erfolgt ist, ohne dass wir wirklich erkennen, wie das abgelaufen ist.

Also braucht es uns nicht zu verwundern, dass die Metaphorik der Quantenphysik verlockend wirkt. Viele von uns haben vielleicht die Physik als trockenes Unterrichtsfach in Erinnerung, das mit den eigenen Interessen im Leben am allerwenigsten Nähe von allen Fächern aufwies. Wie schön, wenn sich jetzt die Möglichkeit einer Analogie zeigt. So ähnlich wie es uns bei den Innenreisen ergeht, mag es vielleicht diesen quantischen Photonen gehen, wenn sie durch Doppelspalten geschossen werden und sich auf der anderen Seite in ihrem Wesen völlig verändert wiederfinden.

Im Großen wie im Kleinen


Ab und zu geraten wir auch in die Horizonte eines in alle Richtungen sich weitenden Universums, in dem wir alles mit allem als inniglich verbunden erleben. Im Großen wie im Kleinen gelten die gleichen Regeln und Verknüpfungen. Oder, wie schon ein dem Hermes Trismegistos zugeschriebener  hellenistischer Text sagte: „Du kannst darum das Große im Kleinen und im Kleinen das Große erkennen.“

Weil uns das so vertraut erscheint, beginnen dann gleich findige Geister gigantische Bögen zu spannen, von der winzigsten aller Welten in die Weiten des Universums. Sie behaupten dann, dass die Ebene der Quanten, die winzigsten Teilchen der Materie, mittels psychischer oder schamanistischer Techniken erreicht und verändert werden können. Denn was im Großen wirkt, muss auch das Kleine mit sich ziehen. Und so freuen sie sich im Glauben, modernste Wissenschaften mit den Praktiken der frühesten Menschen verbinden zu können.

Die Physiker allerdings erkennen aufgrund ihrer wissenschaftlichen Einsicht, dass die quantenmechanischen Gesetzmäßigkeiten nur auf der untersten Ebene gelten und sich nicht auf komplexere Ebenen übertragen lassen. Die sich verdichtende Materie kann sich also nicht mit Gleichartigem verschränken und teleportieren. Sie kann nicht an zwei Orten gleichzeitig aufscheinen. Für ihre Welt gelten andere Regeln und Gesetzmäßigkeiten.

Quanten-Marketing


Folglich wird klar, dass die Nutzung des Quantenbegriffes in Bezug auf psychische Heilungsmethoden ein Marketing-Gag ist. Begriffe erzeugen innere Bilder, innere Bilder erzeugen Gefühle, Gefühle erzeugen Motivationen, Motivationen erzeugen Handlungen. So funktioniert Marketing, die Kette von der Wahrnehmung bis zum Kauf soll damit geschlossen werden, und das magische Wort „Quantum“ hat die gewünschte Wirkung entfaltet. In der Vielfalt des Angebotes auf dem Markt der Seelenführer greifen wir auf vertraute oder Vertrauen erweckende Metaphern zurück, um uns zu orientieren. Die Grenze zum Verführen ist da allerdings immer auch recht durchlässig.

So heißt es z.B. in einem Werbetext:
„Was ist Quantenheilung? Es ist eine praktische Anwendung der Quantenphysik, laut der jede Realität als Energie bzw. Schwingung beschrieben werden kann. Mit der sehr leicht zu erlernenden 2-Punktmethode kann durch reine Absicht eine Umprogrammierung auf subatomarer Ebene herbeigeführt werden.“

Ob das so stimmt oder nicht, kann wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Wie sollte eine Messung von subatomaren Photonen während einer Sitzung in Quantenheilung ablaufen, welche „Umprogrammierung“ sollte da stattfinden? Photonen ändern bei quantenmechanischen Experimenten ihre Drehrichtung, ihren Spin, aber was heißt da Umprogrammierung, wenn es in ihrer Welt gar keine festgelegten Programmierungen gibt? Und schon gar: Eine gute therapeutische Sitzung sollte der Klienten nach der Sitzung ein besseres Gefühl geben als vorher. Blöderweise kennen Photonen kein Vorher und kein Nachher…

Die angewendete Methode kann gute heilende Erfolge bewirken, wie viele andere Methoden auch, die sich nicht auf die Quantenphysik berufen. Darum sollte beides nicht in einen Topf geworfen werden, denn skeptisch denkende Menschen werden sofort mit guten Argumenten die Analogie zwischen z.B. dem komplexen Funktionieren eines Gehirns und dem Verhalten von Photonen zurückweisen und auf die Unmöglichkeit hinweisen, die Erkenntnisse der Quantenwelt auf die der Moleküle zu übertragen, geschweige denn, auf die der Zellen, geschweige denn auf die eines Megazellenverbandes wie das menschliche Gehirn.

Die skeptischen Leute werden aber dazu neigen, die Methode samt ihrem Erklärungsmodell zu verdammen: Wer so windige Theorien entwickelt, kann keine gute therapeutische Arbeit zustande bringen. Manche kompetente Praktiker veranlasst ihre vielleicht zu schwach entwickelte theoretische Kompetenz zu geistigen Höhenflügen, die sie dann in Sphären führt, wo die Luft dünn wird, ohne dass sie das merken. Damit geraten sie schnell ins Visier der kompetenten Theoretiker, die allerdings oft kein Verständnis und noch weniger Gespür für die therapeutische Praxis haben.

Und so entbrennen schnell unnötige Glaubenskämpfe, unnötig deshalb, weil die angewendeten Methoden, falls sie hilfreiche Wirkungen und keine Schäden hervorrufen, nicht in ihrem Wert geschmälert oder diskreditiert werden sollen, und andererseits die Forderungen der Skeptiker nach einer klaren Terminologie und einem redlichen Gebrauch der Wissenschaften, auch im Sinn eines kritischen Verbraucherschutzes, Respekt und Beachtung verdienen.


Vielleicht ist es am besten, die Quanten in ihrer Quantenwelt zu lassen und uns an den Erkenntnissen der Physiker zu erfreuen, soweit sie Eingang in unseren Verständnishorizont finden, und den sonstigen Gebrauch des Wortes als das zu sehen, was es ist: Eine bestenfalls kreative Wortschöpfung, die auf Automarken und Hedgefonds ebenso angewendet werden kann wie auf Eislutscher oder Therapie- und Coaching-Methoden.


"Der Missbrauch quantentheoretischer Begrifflichkeiten zur Bewerbung und pseudowissenschaftlichen Autorisierung von allerlei Heilmethoden, diversen Apparaten und self-help-Accessoires ist nicht zu rechtfertigen und sollte im Allgemeinen eher zu Misstrauen gegenüber der Seriosität der Anbieter anregen." (Nikolaus v. Stillfried, Quantenphilosophische Ideen zu Fragen des Bewusstseins. In: Bewusstseinswissenschaften, 19. Jahrgang 1/2013, S. 53)

Literatur zur Quantenphysik:
Anton Zeilinger: Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik (Goldmann 2007)
Jeffrey Satinover: The Quantum Brain. The Search for Freedom and the Next Generation of Man (Wiley 2001)