Mittwoch, 30. Januar 2013

Gedanken zum Verzeihen

Verzeihen erfordert die Bereitschaft, sich bewusst mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen, sich selber als Opfer und die andere Person als Täter zu sehen und zu spüren. Das bedeutet auch, allen Gefühlen darum herum Raum zu geben. Solange Schmerz und Wut aufquellen, sobald die Erinnerung an das, was geschehen ist, aufsteigt, ist das Verzeihen nicht möglich. So erfordert das Verzeihen ein Geschehen, das wir nicht steuern können. Im Zug dieses Geschehens lösen sich die festgefahrenen Gefühle und Gedanken und machen einem weiteren Feld des Wahrnehmens Platz. Ein größeres Bild öffnet sich.

Verzeihen heißt, aus der Opfer-Täter-Verstrickung auszusteigen. Ich höre auf, mich auf meine Verletzung zu konzentrieren und daran zu leiden. Solange ich darauf fixiert bin, dass mir Unrecht geschehen oder Böses widerfahren ist, hänge ich fest – an dem, was geschehen ist, und an der Abwertung der anderen Person. Es gibt solange einen Täter, solange es ein Opfer gibt. Verzeihen heißt also auch, den Täter aus der Täterschaft zu entlassen. Damit erst werde ich frei von  meinem Opfersein. Ich nehme mich an in meiner Würde, die unverletzlich ist, die immer da ist, gleich was mir geschieht oder angetan wird. Aus dieser Würde heraus kommt echtes Vergeben. Und ich anerkenne auch die unverletzliche Würde des Täters, die nicht betroffen ist von der Unbewusstheit, Eingeschränktheit und Selbstvergessenheit, die ihm bei dem, was mich verletzt hat, unterlaufen ist.

Verzeihen heißt, die andere Person, die mich verletzt hat, in ihrer eigenen Verletzungsgeschichte zu sehen, ohne dass ich mich selber dabei überlegen fühle.

Ich kann erst verzeihen, wenn ich erkannt habe, dass die andere Person mich nicht einfach aus einem persönlichen charakterlichen Mangel schlecht behandelt hat, sondern weil sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte und momentanen Stimmungslage in jener Situation nicht besser handeln konnte.

Dann kann ich erkennen, dass die Handlung, die mich verletzt hat, gar nicht gegen mich gerichtet war, sondern entweder unbedacht geschehen ist (die andere Person war nicht präsent bei der Tat) oder dass die Handlung aus Rache geschehen ist – und in Wirklichkeit einem Menschen gegolten hat, der eine Rolle in der Geschichte des Täters spielte und mir der mich der Täter jetzt „verwechselt“ hat.

So kann man sagen, dass im Täter das Opfer aufgestanden ist, um sich endlich zur Wehr zu setzen, wenn auch zur falschen Zeit und am falschen Ort.

Ich kann nur verzeihen, wenn ich verstanden habe, dass Menschen nicht einfach böse sind, sondern böse Handlungen setzen, weil sie selber unachtsam behandelt wurden und deshalb leicht in Situationen kommen, in denen sie nur beschränkt handlungsfähig sind, in denen sie nur eine beschränkte Sicht auf die anderen Menschen haben.

Jemand tritt mir auf die Zehen oder spritzt mich im Vorbeifahren voll, weil er im Stress ist und mich deshalb nicht wahrnimmt. Im ersten Impuls denke ich, der will mir was zu Fleiß tun, im zweiten wird mir klar, dass es da jemand nicht geschafft hat, achtsam genug zu sein – wie auch ich oft nicht achtsam genug bin. Dann kann ich verzeihen.

„Auch ich…“ macht mich gleich mit den anderen Menschen, weder besser noch schlechter, sondern genauso menschlich. Das, was geschehen ist, fügt dem unendlichen Teppich an menschlichen Geschichten eine weitere hinzu. Wenn ich dann genauer hinschaue, erkenne ich vielleicht, dass in dieses Geschehen, das mir so schrecklich verletzend erschienen ist, ein Faden Humor eingewoben ist, gesponnen aus der unausrottbaren Unvollkommenheit der Menschen. So sei mir erlaubt, meine eigene Spielart der Unvollkommenheit zu belächeln.

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