Donnerstag, 18. Oktober 2012

Animus und Anima im 21. Jahrhundert

Zum Verstehen des Männlichen und Weiblichen und der Beziehungen zwischen beiden hat Carl Gustav Jung vor fast hundert Jahren das Modell von Animus und Anima entwickelt. Die Idee dabei ist, dass jeder Mann in sich versteckt weibliche Anteile hat (Anima) und jede Frau einen verborgenen Animus. Wir suchen uns Beziehungspartner aus, die unsere eigenen ungelebten und unbewussten Anteile zum Ausdruck bringen, sodass wir in der Beziehung zu dieser Ganzheit finden wollen. Allerdings scheitert dieser Weg, sobald deutlich wird, dass der Partner oder die Partnerin in der Beziehung den Erwartungen nicht gewachsen ist. Zum einen fließen in die Projektion die Verletzungen und Irritationen ein, die wir als Kind erlebt haben, zum anderen haben wir es mit Archetypen zu tun, die wir gerne mit realen Personen verwechseln.

Die Anima


Die Anima gilt als die weibliche Seite im Unbewussten des Mannes, der Archetyp des Weiblichen. Sie wird als intuitiv, aufnehmend, einfühlsam, aber auch launisch aufgefasst.
Die Anima kann sich störend in Beziehungen einmischen, wenn der Mann von einer Frau erwartet, dass sie so ist wie die archetypische Gestalt in ihm, was keiner realen Frau je gelingen wird. Vielmehr muss der Mann diese Anteile in sich selbst entwickeln, sonst geht er in die Irre und entwickelt eine narzisstische Beziehungsstörung. Dabei ist noch zu beachten, dass der Anima-Archetyp vom Mutterarchetyp überlagert ist und erst einmal von diesem befreit werden muss, bis dem Mann klar wird, wie er seinen weiblichen Pol ausgestalten kann. Der positive Aspekt der Anima ist die Führung nach innen, zum Ernstnehmen der eigenen Empfindungen, Gefühle und Phantasien. Dadurch kann der Mann das empfangende Prinzip in sich entwickeln.

Der Animus


Der Animus repräsentiert die männlichen Aspekte im Unbewussten der Frau, den Archetyp des Männlichen. Er wird als rational, bestimmend und beherrschend beschrieben. Ähnlich wie beim Mann, wirken auch bei der Frau die archetypisch geprägten Rollenerwartungen belastend auf die Beziehung. Sie sind zusätzlich aufgeladen mit den inneren Vaterbildern und Prägungen durch andere männliche Familienmitglieder. Auch hier gilt es, dass die Frau in sich die Qualitäten entwickelt, die ihr Animus für sie bereit hält. Seine positiven Aspekte liegen nach Jung in Mut, Unternehmungsgeist und Wahrhaftigkeit, sowie auch in der Seelenführung zur inneren Wandlung.

Der heilsame Nutzen


C.G. Jungs Intention, diese Archetypen zu beschreiben, lag darin, den Menschen zur Ganzheit (zum Heilsein) zu verhelfen. Als Tiefenpsychologen war es ihm wichtig, verdrängte unbewusste Anteile ins Bewusstsein zu holen und damit der Psyche zugänglich zu machen. Damit wollte er Männern wie Frauen helfen, sich zu finden und zu vervollständigen und damit ihre Beziehungsprobleme besser lösen zu können. Wird nämlich eine Projektion auf den Beziehungspartner erkannt und zurückgenommen, entsteht ein neuer Raum für die Liebesbeziehung. Zugleich fühlt sich jeder mit sich selber besser, wenn alle Seelenanteile ihren Platz im Bewusstsein und in der eigenen Identität haben dürfen.

Allzu mechanistisch aufgefasst, kann allerdings das Modell so missverstanden werden, als ob jeder Mann dem Archetypus, der zugleich als Idealtypus fungiert, möglichst nahe kommen muss, um ein „echter Mann“ zu sein, und umgekehrt so bei der Frau. Jeder Mann müsste dann die für alle gleiche Anima in sich finden, und jede Frau den ebenso allgemein verbindlichen Animus.

Der Archetyp ist jedoch kein Ideal, sondern laut Jung eine Gestalt aus dem kollektiven Unbewussten. Er symbolisiert zentrale menschliche Erfahrungen, die es, wie in diesem Fall die Begegnung von Mann und Frau, in allen Kulturen gibt. Er umfasst eine ganze Bandbreite von Phänomenen, und es ist deshalb leicht irreführend, wenn er mit ganz bestimmten Eigenschaften behaftet wird. Jede inhaltliche Beschreibung des Archetypen greift immer zu kurz.

Folglich kann die Beschäftigung mit Animus und Anima nur dann heilsam wirken, wenn von der jeweils individuellen Ausgestaltung der Archetypen ausgegangen wird, wie sie symbolisch verkleidet in Träumen oder Fantasien auftauchen kann. Dabei hilft der Archetyp mehr als Wegweiser denn als Ziel, das es zu erreichen gilt. Das Ziel ist die innere Ganzheit, das Zu-Sich-Selbst-Kommen in der je eigenen Form und nicht die Anpassung an ein vordefiniertes Muster.

Auch die Traumgestalt, so eindrucksvoll sie sein mag, gilt es nicht nachzuahmen, sondern die eigene Form, die sich darin verbirgt, die individuell wahrnehmbare Bedeutung und der selbst interpretierte und gefundene Symbolgehalt sind die Richtschnur der Exploration und der Garant der integrativen Aneignung.


Rollenbilder


 

Kritisiert wird an Jungs Modell der Rückgriff auf gesellschaftlich vorgeprägte Rollenbilder. Gibt es nicht Frauen, die rational und dominant sind und denen ein wenig mehr Weichheit gut täte? Oder Männer, die nachgiebig und gefühlvoll sind, und denen mehr Durchsetzungskraft nicht schaden könnte? Zu Jungs Zeit waren die Rollenbilder noch klar definiert und zementiert. Doch da hat sich viel geändert. Zwar gibt es nach wie vor das Ziel in der Erziehung, dass Männer zu Männern und Frauen zu Frauen erzogen werden. Auch wenn jede Zeit ihre Männer- und Frauenbilder entwirft und verbreitet, gibt es dazu den Trend, dass diese Bilder immer vielfältiger und vieldeutiger werden, sodass es immer unklarer wird, zu welchen Männern und Frauen erzogen werden soll.  

Darin wird deutlich, dass jeder Mensch eine eigene Mischung aus Animus und Anima bildet, die einen haben mehr von dem einen und die anderen mehr vom anderen. Es gibt “männlichere” Frauen als manche Männer u.U. Eine in die Zukunft gerichtete Idee wäre, dass sich Männer wie Frauen von vordefinierten Rollenbildern lösen und frei ihre Form von Anima und von Animus leben können. Dann dienen uns die beiden Pole als Archetypen, die von jedem Menschen in seiner eigenartigen und einzigartigen Form ausgelegt werden.


Archetypen und das Individuum



Wir sprechen von Archetypen, prägenden Grundideen des kollektiven Unbewussten. Die Wirklichkeit zeigt Männer und Frauen in unterschiedlichster individueller Ausprägung, eine unendliche Vielfalt in der Mischung des Männlichen und Weiblichen, die sich nicht als Pole gegenüberstehen, sondern in einem Kontinuum verschmelzen. Bei der Gestaltung der jeweiligen Animus-Anima-Persönlichkeit wirken die genetisch und epigenetisch weitergegebenen Anlagen ebenso mit wie embryonale Erfahrungen (Geschlechtswunsch der Eltern, eventuell Begegnung mit einem Zwilling, Interaktionserfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft usw.) und natürlich die Rollenbilder, die in der Erziehung und im kulturellen Umfeld vermittelt werden.

Typisch Mann – typisch Frau, die einen vom Mars, die anderen von der Venus, diese Stereotype nähren sich aus den vielfältigen Quellen der Identitätsbildung, von den Hormonen bis zu den Ikonen der Werbewelt. Das Angebot an Männer- und Frauenbilder wird immer vielfältiger und widersprüchlicher. So wird es immer verwirrender für die suchenden Menschen, ihre Identität zu finden und die Klarheit zu gewinnen, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll.

Jung hatte es noch einfach in seiner Zeit, als die „klassischen“ Rollenzuteilungen (der rationale Mann, die gefühlvolle Frau) weitgehend in der Wirklichkeit gefunden werden konnten. Die Gesellschaft hat sich seither rasant weiter entwickelt und ausdifferenziert. Männer, die sich als Frauen fühlen und Frauen, die Männer sein wollen, werden immer weniger ausgegrenzt. Wir wissen heute viel mehr, aus der Pränataldiagnostik z.B., dass sich das männliche Geschlecht dadurch entwickelt, dass die Ausprägung der weiblichen Organe verhindert wird, oder aus der Gehirnforschung, dass sich männliches und weibliches Gehirn hauptsächlich durch ein im Durchschnitt größeres Ausmaß an Testosteron unterscheiden und dass die Ausprägung der „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ stark von der hormonellen Embryonalentwicklung abhängt. Wir wissen aus der Soziologie, wie Geschlechtsrollen laufend konstruiert und wieder dekonstruiert werden. Und wir erleben in den vielfältigen Angeboten der Unterhaltungsindustrie, dass zu jedem Typus eine Unmenge von Stereotypen produziert werden können.


Wollen Sie männlich sein wie Leonardo di Caprio oder Silvio Berlusconi, oder vielleicht wie Johnny Depp (in welcher Filmrolle bitte?)– nein, werden Sie ein echter Mann, endlich! Hätten Sie gerne Ihre Weiblichkeit nach Frau Zeta-Jones oder Frau Merkel, oder eine kreative Mischung aus beiden? Sind Sie schon genug emanzipiert und wissen Sie, wie Sie in der City jederzeit zu Ihrem Traumsex kommen? Wie wollen Sie Ihre Beziehung leben: gemäß Allan & Barbara Pease (Warum Männer immer Sex haben wollen, während sie einparken und Frauen von Liebe träumen, während sie zuhören), nach John Gray (Alles, was Mann (am Mars) wissen muss, und wie Frau es ihm sagen kann (von der Venus aus?)) oder doch nach Cordelia Fine (Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann)?


Jenseits der Klischees


Auf der systemischen Bewusstseinsstufe müssen wir alle starren Rollenzuteilungen aufgeben. Zu jedem Modell gibt es ein Gegenmodell, zu jedem Typus einen Antitypen, und dazwischen jede Menge an Variationen. Jeder Mensch ist eine Abweichung von irgendetwas. Brauchen wir im 21. Jahrhundert noch ein dualistisches Konzept von Animus und Anima, oder steht es uns eher im Weg, wenn wir uns selber und das jeweils andere Geschlecht besser verstehen und gedeihlicher miteinander auskommen wollen? 

Jedes der Modelle ist schon irgendwo im Streit der Männer und Frauen als Waffe verwendet worden, um den eigenen Standpunkt zu untermauern und durchzusetzen und die andere Person abzuwerten. Ich bin so, weil ich vom Mars bin. Du musst dich ändern, weil du deinen Animus unterdrückt hast... Wir können jedes Modell dazu benutzen, die andere Person einzustufen und zu bewerten, statt ihr zu begegnen. Über Konzepte können wir einen Menschen nie verstehen, und mit Diagnosen kommen wir ihm auch garantiert nicht näher.

Was wir statt dessen brauchen, ist eine Einstellung, aus der heraus wir Menschen begegnen, nicht nur unterschiedlichen Geschlechts, sondern überhaupt und vor allem unterschiedlichen Wesens. Zunächst gilt es, diese Einzigartigkeit zu erkennen und zu würdigen, und erst nachgeordnet die Geschlechtszugehörigkeit. Dafür ist es notwendig, alle Rollenklischees abzulegen und hinter die Prägungen zu blicken, die unsere Kultur in uns hinterlassen hat. Und dass wir uns selbst begegnen als ganz besondere Wesen, dass wir uns selbst so annehmen, wie wir sind, in der uns ganz eigentümlichen Mischung von Animus-Anteilen und Anima-Anteilen, und dass wir in unserer Innenerforschung weitergehen, um noch mehr davon freizulegen. 


Das Animus-Anima-Modell können wir dafür immer wieder auch als Leitfaden nehmen und es dabei zunehmend von den aufgeklebten Rollenbildern befreien, sodass wir schließlich unser ganz eigenes Zusammenspiel von dem, was vielleicht einmal zum männlichen Archetyp gehörte und dem, was einmal zu seinem weiblichen Gegenpol gehörte, in uns erkennen und sein inneres Wachstum beobachtend begleiten können. So kommen wir in eine Spirale der Bereinigung der Bilder von uns selbst und jener, die wir uns von den anderen Menschen machen. Je mehr wir andere Menschen in ihrer Tiefe und Eigenart annehmen können, desto besser gelingt uns das bei uns selbst. Diese Spirale nähert uns mehr und mehr dem an, was wir in der Kommunikation und in der Begegnung eigentlich suchen, ein Erkennen von Mensch zu Mensch.

Literatur: C.G. Jung, Der Mensch und seine Symbole. Bern: Walter 1995, S. 195





2 Kommentare:

  1. Schade, dass Sie mit Ihrem Statement zum Schluss so weit zurückfallen hinter die Erkenntnisse, die Sie zuvor beschreiben. Sie scheinen überhaupt keine Vorstellung von der Bedeutung unserer Evolution für uns heute zu haben. Jungs Konzepte sind nicht einfach da oder nicht da, je nachdem, wie man will.
    Sie scheinen davon jedenfalls nicht viel verstanden zu haben.

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  2. Geschätzter Anonym, ich freue mich auch über kritische Rückmeldungen, allerdings finde ich es schade, dass Sie im Dunkeln lassen, worauf Ihre Kritik sich richtet und wie Sie das Thema selber sehen. Sonst hätte sich daraus mglw. ein fruchtbarer Austausch ergeben.

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