Samstag, 18. Februar 2012

Materialien zur Epigenetik

Die relativ junge Forschungsrichtung der Epigenetik lehrt uns einerseits, dass Gene ein- und ausgeschaltet werden, und andererseits, dass solche Muster des Ein- und Ausschaltens von Genen weitervererbt werden können. Sie liefert also eine Erklärung dafür, dass Veränderungen in der Therapie bis auf die Zellebene „hinunter“ wirken können (und müssen, um dauerhaft zu sein) und auch dafür, warum wir Probleme mit uns tragen, die von vorigen Generationen stammen.

Gene und Epigene

Die Zellen erledigen ihre Aufgaben in dauernder Kommunikation mit ihrer Umgebung. Aber auch innerhalb der Zellen finden viele Prozesse des Informationsaustausches statt, und besonders wichtig sind solche, die die Aktivierung des genetischen Codes (des Genoms) anbetreffen, der im Zellkern gespeichert ist. Die meisten Gene (ca. 58 000 von 80 000) spulen nicht automatisch ihr Programm ab, sondern werden ein- und ausgeschaltet wie ein Radioapparat. Welche Bedingungen wirken auf solche Schaltvorgänge ein und wie können diese beeinflusst werden? Mit dieser Thematik beschäftigt sich die Epigenetik.
Spannende Ergebnisse liefert diese Forschungsrichtung, weil sie aufzeigt, wie veränderungsfähig alle Organismen sind. Sie widerspricht dem genetischen Determinismus, der behauptet, dass wir von den Genen gesteuert wären, sodass wir an unseren Schwierigkeiten und Problemen im Grund nichts ändern könnten, weil diese von Anfang an schon fixiert wären. Wir wissen dagegen jetzt, dass sich die meisten Gene entsprechend den jeweiligen Erfordernissen ausdrücken (Genexpression).
Ein großes Forschungsprojekt in England ergab, dass die Söhne von Vätern, die schon vor der Pubertät geraucht hatten, überdurchschnittlich dick wurden, während bei den Töchtern keine diesbezüglichen Abweichungen vorkamen.
Weiters wurde erkannt, dass sich Epigene, also die „Gen-Schalter“, viel leichter verändern lassen als die Gene selbst. Gene können nur mit sehr aufwändigen und schwierigen Operationen im Genom korrigiert werden, während Epigene z.B. schon durch eine Veränderung von Verhaltensweisen moduliert werden können, d.h. entweder in ihrer Aktivität gesteigert oder zurückgefahren werden.
Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass epigenetische Signale von den Eltern auf die Kinder, möglicherweise sogar auf die Enkelkinder weitergegeben werden können. Wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen, nicht nur, weil sie es hören und nachahmen, sondern weil sie es in ihrem epigenetischen Repertoire schon mitbringen. Freilich funktioniert das auch umgekehrt: Die Untugenden der Vorfahren oder möglicherweise deren ungelösten Lebensprobleme werden ebenso weitervererbt, als wären sie in den Genen verankert.

Was ist Epigenetik? Einige Definitionsversuche:


„Der nur wenige Mikrometer (0,005 mm) große Zellkern enthält rund zwei Meter DNA. Wir versuchen, die Mechanismen zu verstehen, die in Anbetracht des winzigen Volumens des Zellkerns den Zugang zur DNA ermöglichen.“

„Den Unterschied zwischen der Genetik und der Epigenetik kann man wahrscheinlich mit dem Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Lesen eines Buchs vergleichen. Nachdem ein Buch geschrieben ist, ist der Text (die Gene oder die in der DNA gespeicherte Information) in allen an den interessierten Leserkreis verteilten Kopien der gleiche. Jedoch wird jeder einzelne Leser des Buchs die Geschichte auf etwas unterschiedliche Weise interpretieren, mit sich im Laufe der Kapitel unterschiedlich entwickelnden Gefühlen und Erwartungen. In sehr ähnlicher Weise ermöglicht die Epigenetik verschiedene Interpretationen einer festen Vorlage (das Buch oder der genetische Code), was je nach den variablen Bedingungen, unter denen die Vorlage betrachtet wird, zu unterschiedlichen Lesarten führt.“

„Informationsmanagement im Zellkern bedeutet, dass ein Teil der genetischen Information im Genom sehr, sehr eng verpackt ist. Dann wieder gibt es genetische Informationen, die sich jederzeit in einem aktiven Zustand befinden müssen, so genannte Haushaltsgene (house-keeping genes) zum Beispiel. Daher ist die Epigenetik ein wenig wie das Informationsmanagement zu Hause: das, was man immer wieder braucht, räumt man nicht weg, aber alte Schulhefte hebt man in Kartons verpackt auf dem Dachboden auf.“
(Haushaltsgene sind solche, die dauernd „eingeschaltet“ sind und für die Aufrechterhaltung des Dauerbetriebes notwendig sind.)

Einige Grundbegriffe:


Genexpression: Umschreiben (transkribieren) der Gene in RNA und dann Umwandeln (Translatieren) in Proteine
DNA-Sequenz: Vier organische Basen: Adenin (A) paart sich mit Thymin (T), Cytosin (C) mit Guanin (G). Die DNA-Sequenz eines Gens bestimmt die Aminosäurenzusammensetzung eines Proteins.

Ein paar eindrückliche Beispiele aus der Forschung:

Enkel entwickeln Diabetes


Der englische Genetiker Marcus Pembrey erforschte die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Erkrankungen in einer abgelegenen Stadt Nordschwedens. Dabei zeigte sich, dass die Enkel von Männern, deren Kindheit in eine Zeit des Überflusses fiel, mit größerer Wahrscheinlichkeit Diabetes entwickelten – verknüpft mit dem höheren Risiko eines frühen Todes. Das galt jedoch nur für die männliche Linie, die Enkeltöchter blieben verschont. Sie wiederum waren betroffen, wenn sich ihre Großmutter väterlicherseits überreich ernährt hatte. In diesem Fall kamen die Enkelsöhne gesund davon.
Das bedeutet, dass die Umweltbedingungen der heute Lebenden Einfluss auf die Nachkommen haben. Pembrey nimmt an, dass die Nahrungsfülle epigenetische Spuren auf den Geschlechtschromosomen X und Y hinterlässt. Wie weitere Analysen nahelegen, hängen die Auswirkungen in den Folgegenerationen vom "Timing" ab – vom Alter, in dem die erste Generation den Überfluss genoss. Die Großmütter der am stärksten betroffenen Enkeltöchter erlebten die üppigen Zeiten im Uterus oder in der Kindheit – also genau in der Phase, in der sich die Keimzellen in den Eierstöcken entwickeln. Bei Männern dagegen fiel die kritische Spanne in das Ende der Jugendjahre - eine entscheidende Zeit für die spätere Spermienbildung. Diese Studien lassen vermuten: Ernährung, Verhalten und Umweltbedingungen der heute Lebenden haben einen immensen Einfluss auf die Gesundheit der Nachkommen – auch weit entfernter.
Und daraus folgt: Wir müssen in dieser Hinsicht Verantwortung nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für unsere Kindeskinder übernehmen. Entsprechend könnten einige heute verbreitete Krankheiten weit zurückliegende epigenetische Ursachen haben.
Ein kanadischer Psychologe vertritt die These, dass unser epigenetisches Erbe eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen – darunter Temperament und Intelligenz – beeinflusst. Deshalb dauere es vermutlich mehrere Generationen, um in einer Bevölkerung die Folgen wieder wettzumachen, die Armut, Krieg und Vertreibung im epigenetischen Code hinterließen. Das zeigen viele praktische Erfahrungen, wie wir sie z.B. in der Aufstellungsarbeit machen.

Drogensucht und Epigenetik


Ein weiteres Beispiel aus der Forschung zeigt, dass psychoaktive Drogen den epigenetischen Code unserer Hirnzellen umschreiben können. Die Lernfähigkeit des Gehirns ist ein schrittweiser Prozess, der ständig Ereignisse mit Ergebnissen bis zur Bildung assoziativer Erinnerungen verknüpft. Psychoaktive Drogen, die eine Belohnung verschaffen, stimulieren diesen Lernkreislauf, sodass bei Suchterkrankungen das auf Belohnung basierende Lernsystem in krankhafte Übersteuerung übergeht und zu zwanghaftem Verhalten führt. Regelmäßiger (chronischer), zwanghafter Drogenkonsum verstärkt daraufhin die gelernte Assoziation und verschlimmert das Problem.
Auf körperlicher Ebene fördert das Lernen die Stärke von Verbindung und Kommunikation zwischen bestimmten Hirnzellen. Man glaubt, dass das Einschalten von Genen, die den physischen Umbau der Verbindungen kontrollieren, daran beteiligt ist.
In Gehirnzellen wird eine Anzahl an Genen nach der Verabreichung von Drogen wie Kokain eingeschaltet, und neue Forschungsergebnisse zeigen, dass dieser Umschaltmechanismus epigenetische Modifikationen einschießt – chemische Veränderungen entweder an der DNA (die die Gene kodiert) oder an mit der DNA assoziierten Proteinen (Histone).
Epigenetische Modifikationen verändern, wie gesagt, nicht den DNA-Code selbst, sondern beeinflussen eher die Verfügbarkeit des Codes für die Faktoren, die ihn ablesen und in sein Produkt übersetzen. Daher können epigenetische Modifikationen ein Gen zugänglich machen und so den Umfang steigern, in dem es abgelesen wird (die Menge des Produkts vergrößern) oder es unzugänglich machen, d.h. es tatsächlich abschalten. Es wurde nun gezeigt, dass Kokain zu einer Acetylierung der Histone an Genen führt, die es damit einschaltet - eine Modifikation, die bekanntermaßen mit zugänglicher, aktiver DNA assoziiert ist.
Kokain verändert nicht nur den epigenetischen Status von Genen, sondern veranlasst auch bestimmte epigenetische Modifikationen, die abhängig von der Häufigkeit des Drogenkonsums sind. Bestimmte Gene werden durch seltene (akute) Verabreichung eingeschaltet, während andere nur nach chronischem Gebrauch (wie bei einer Suchterkrankung) aktiviert werden. Manche werden in beiden Fällen eingeschaltet. Bei durch akuten Konsum eingeschalteten Genen werden die Histon-H4-Proteine acetyliert, bei chronischem Drogengebrauch die Histon-H3-Proteine. Gene, die durch beide Formen der Drogeneinwirkung aktiviert werden, weisen H4-Acetylierung zu Beginn der Kokainexposition auf und wechseln zu H3-Acetylierung, wenn der Drogenkonsum chronisch wird.
Interessanterweise bleibt die durch beständige Kokaineinwirkung veranlasste H3-Acetylierung bei einer Anzahl von Genen auch lang nach der Absetzung der Droge aufrecht. Diese anhaltende molekulare Markierung könnte daher zu einer Daueraktivierung der Gene und einer Anhäufung ihrer umbauenden Produkte führen, was im Gegenzug die langfristigen körperlichen Veränderungen erklären könnte, die notwendig sind, um die Hirnzellverbindungen während Lern- und Suchtprozessen zu stärken.

Epigenetik und Krebs


Das Epigenom steuert, welche Abschnitte unserer DNA aktiv sind. Unser Genom wickelt sich um Histone, zelluläre Spulen, die von Enzymen mit Molekülen wie Acetyl und Methyl markiert werden. Die Markierungen und Wicklungen legen fest, welche Gene eingeschaltet sind und welche nicht. Die richtige Regelung der Gene hält die Zellen in Ordnung, aber ein Agieren außerhalb der Norm verursacht ein unsoziales Verhalten der Zellen. Veränderungen im Verhalten zweier epigenetischer Enzyme scheinen bei vielen Krebsarten eine Rolle zu spielen, indem sie die falschen Gene einschalten. Es hat sich als nützliche Anti-Krebs-Strategie erwiesen, mit Medikamenten die Balance zwischen diesen Enzymen wieder herzustellen.
Viele Krankheiten haben eine bekannte genetische Komponente, können aber durch die Epigenetik modifiziert werden. Epigenetische Faktoren wie die DNA-Methylierung sind wesentlich praktikablere Ansatzpunkte für Behandlungen, denn die Art und Weise, wie DNA methyliert wird, lässt sich viel leichter ändern als die zugrunde liegende DNA-Sequenz. Nicht funktionierende Methylierung kann dazu führen, dass Gene nicht zum Schweigen gebracht werden und dann Krebs produzieren.   
Trächtige Mäuse kriegen Folsäure und B12 (enthält viele Methylverbindungen): Junge kriegen braunes Fell statt gelbes. Dabei wird das „Agouti-Gen“, das für das Gelb zuständig ist, methyliert und verringert dessen Expression. Die Sequenz des Gens wird dabei nicht verändert.
Eine Extraportion Vitamin B12, ein bisschen Folsäure, eine Prise Cholin - allesamt Stoffe, die sich in vielen in Apotheken erhältlichen Nahrungsergänzungsmitteln finden. Randy Jirtle von der Duke University im amerikanischen Durham und sein Mitarbeiter Robert Waterland setzten die aufgepeppte Diät dicken, gelben Mäusen vor, die in der Wissenschaft unter dem Namen Agouti-Mäuse laufen. Das Agouti-Gen in ihrem Erbgut ist es, das den Tieren ein gelbes Fell verleiht, sie gefräßig macht. Die Weibchen bekamen das Futter zwei Wochen vor der Paarung und während der Schwangerschaft. Wenn Agouti-Mäuse Nachwuchs bekommen, wird dieser normalerweise ebenso gelb, ebenso fett und ebenso krankheitsanfällig, wie es die Eltern sind. Die Mehrzahl der Nagerkinder in Jirtles Experiment schlug jedoch aus der Art: Sie waren überwiegend schlank und braun. Außerdem fehlte den Sprösslingen die Veranlagung für Krebs und Diabetes. Durch einen subtilen Prozess war das Agouti-Gen abgeschaltet worden. Und das, ohne einen einzigen "Buchstaben" im Erbgut der Nager umzuschreiben.

Drei Milliarden Bausteine im Erbgut


Wenn Genetiker von Mäusen sprechen, meinen sie meist auch den Menschen. Das menschliche Erbgut: drei Milliarden Bausteine, etwa 25.000 Gene, dazwischen eine Unmenge scheinbar sinnloser Sequenzen, insgesamt ein zwei Meter langer Faden aus Desoxyribonukleinsäure (DNS). Dieses Riesenmolekül gilt heute weithin als Bauplan für den menschlichen Körper. Aber es werden Anweisungen benötigt, wann welcher Schritt auszuführen ist. So enthält eine Leberzelle dieselben genetischen Informationen wie eine Gehirnzelle, dennoch erfüllen beide völlig unterschiedliche Aufgaben, produzieren beide spezielle Eiweiße in typischen Mengen. Zwar kann man gewisse Details dieses Differenzierungsprozesses durch das Regiment von Steuerungs-Genen erklären, die in den DNS-Faden integriert sind. Doch seit Jahren mehren sich die Hinweise darauf, dass die Aktivität vieler Gene auch von außen beeinflusst wird: Bestimmte Proteine heften sich an die DNS und helfen, jenes Enzym in Position zu bringen, das den genetischen Code abliest.

Schalter, die Gene an- und ausknipsen


Wie dieses Merken funktioniert, ist Gegenstand der Epigenetik. Epigenetische Marker stecken nicht in den Buchstaben der DNS selbst, sondern auf ihr: Es sind chemische Anhängsel, die entlang des Doppel-Helix-Strangs oder auf dem "Verpackungsmaterial" der DNS verteilt sind. Sie wirken als Schalter, die Gene an- und ausknipsen. In den vergangenen Jahren haben Epigenetiker große Fortschritte im Verständnis dieser übergeordneten Steuermechanismen erzielt. Dabei wurde immer klarer, dass das Epigenom für die Entwicklung eines gesunden Organismus ebenso wichtig ist wie die DNS selbst. Deutlich wurde bei den Forschungen auch, dass das Epigenom durch äußere Einflüsse weit leichter als die Gene verändert werden kann. Die größte Überraschung aber ist: Epigenetische Signale werden von den Eltern an die Kinder weitergegeben.
Die neuen Entdeckungen erschüttern das bisherige Wissen über Genetik und gängige Vorstellungen von Identität. Sie stellen also in Frage, was gemeinhin angenommen wird: dass die DNS unser Aussehen, unsere Persönlichkeit und unsere Krankheitsrisiken bestimmt. Die These "Die Gene sind unser Schicksal" ist bei vielen zur Überzeugung geworden. Solche eindimensionalen Vorstellungen aber sind nun obsolet. Denn selbst wenn Menschen exakt über die gleichen Gene verfügen, unterscheiden sie sich häufig in den Mustern der Genaktivität und damit auch in ihren Eigenschaften.
Derzeit arbeiten Wissenschaftler intensiv daran, die biochemischen Mechanismen der epigenetischen Steuerung zu enthüllen. Einer der Regelvorgänge, so hat sich dabei herausgestellt, setzt am "Verpackungsmaterial" der DNS an. Denn der Erbfaden liegt nicht lose im Zellkern, sondern ist auf zylindrische Proteine - "Histone" - gewickelt, und zwar derart, dass eine Kette mit Perlen wie bei einem Rosenkranz entsteht. Damit Enzyme die Informationen des Erbcodes lesen und abschreiben können, muss die betreffende Region der DNS für sie zugänglich sein. Zugang finden sie nur, wenn die Erbsubstanz in lockerer Form vorliegt. Um dies zu ermöglichen, müssen die Histonproteine bestimmte Anhängsel tragen. Sind diese dagegen nicht vorhanden, ist die Erbsubstanz dicht gepackt, und das Gen bleibt inaktiv. Viele Details dieses Schaltvorgangs sind allerdings noch nicht entschlüsselt.
In weiteren Studien gelang es Meaneys Team sogar, die frühkindliche Prägung umzukehren: Der Wirkstoff Trichostatin A machte ängstliche Nager stressresistenter, mit der Aminosäure L-Methionin wurden "mutige" Ratten zaghafter. Diese Ergebnisse bieten erstmals eine Erklärung für die Mechanismen, mit denen Umweltfaktoren auch komplexe Verhaltensweisen verändern. Und sie verdeutlichen ebenfalls, dass das Epigenom von Säugetieren nicht nur in der Entwicklungsphase, sondern auch noch in höherem Alter formbar ist. Dass wir also auch noch als Erwachsene an ihm "arbeiten" können, sei es durch Medikamente oder Nahrungsmittel. "Die Experimente bestätigen die Wichtigkeit der Umwelt bei der Entwicklung eines Lebewesens", sagt Michael Meaney. Nun sucht der Forscher beim Menschen nach ähnlichen Phänomenen. Die Erbgut-Abschnitte, die durch liebevolle Aufzucht bei Ratten programmiert werden, kommen, glaubt Meaney, in ähnlicher Form auch im Humangenom vor.
Frauen, die im Hungerwinter 1946/47 geboren wurden, kamen mit einem geringen Geburtsgewicht zur Welt und brachten später auch besonders kleine Kinder zur Welt, obwohl es nun wieder genug zu essen gab. Die Enkel der Kriegsgeneration litten unter einem höheren Krankheitsrisiko. Wie kann es sein, dass Veränderungen, die durch die damaligen Lebensbedingungen hervorgerufen wurden noch in den nachfolgenden Generationen zu finden sind?

Histone


Ein wichtiger Bestandteil, um Aufschluss über eine solche Art der Vererbung zu geben, sind Histone, eine Art Verpackungsmaterial für die DNA. Histone sind Proteine, die je nachdem, welche chemische Gruppe sie tragen, ob sie methyliert oder acetyliert sind, Gene dauerhaft deaktivieren oder aktivieren können. Bei der Zellteilung geben Histone ihr Eigenschaft an die Tochterzellen weiter. So bleibt die genetische Information und auch die epigenetische Information erhalten. Es wird angenommen, dass Methylierung, Acetylierung oder auch andere Formen der Histonmodifikation, wie Phosphorylierung, Sumoylierung und Ubiquitinylierung durch äußere Faktoren, wie Umwelteinflüsse und Ernährung beeinflusst werden. Ein Beispiel bietet die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, die weiße Augen hat und ihre Embryonen bei 25 Grad Celsius aufzieht. Wird die Umgebungstemperatur der Embryonen für kurze Zeit auf 37 Grad Celsius erhöht, schlüpfen Fliegen mit roten Augen. Werden diese Fliegen untereinander gekreuzt, ist ein Teil der Nachkommen wieder rotäugig, obwohl auf eine weitere Wärmebehandlung verzichtet wurde. Eine Gruppe von Forschern von Renato Paro, Professor für Biosysteme am Department of Biosystems Science and Engineering (D-BSSE), kreuzten diese Fliegen über sechs Generationen und immer wieder kamen Rotäugige zur Welt. Jedoch blieb die DNA-Sequenz des Gens, welches für die Augenfarbe verantwortlich ist, bei Eltern und Nachkommen gleich.

Vererbung von Traumatisierung


Auch wenn die schlimmsten Befürchtungen über die psychologischen Folgen des 9/11-Attentats in New York nicht eintrafen, so litt doch eine geschätzte 1/2 Mio der Einwohner an Symptomen posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS). Unter den Zehntausenden, die den Ereignissen direkt ausgesetzt waren, befanden sich 1.700 schwangere Frauen, von welchen einige ebenfalls an PTBS-Sypmtome entwickelten. Wie sich zeigte, wurden diese Symptome zum Teil auf deren Kinder übertragen, wie Rachel Yahuda, Professorin der Psychiatrie und Neurologie an der Traumatic Stress Studies Division im Mount Sinai Medical Centre, New York, veröffentlichte.
Ausgangspunkt waren Messungen des Stresshormons Cortisol an Speichelproben betroffener schwangerer Frauen. Dieser Level war bei Frauen, die keine Symptome von PTSD aufwiesen, signifikant niedriger als bei den anderen. Die Kinder der Frauen zeigten später ähnliche Unterschiede bei den Messungen, wobei die Unterschiede dann am größten waren, wenn die Mütter sich im letzten Schwangerschaftsdrittel befanden. Diese Unterschiede zeigten sich auch bei Messungen der Stresskompensation – auch hier fand man höhere Belastungen der Kinder, deren Mütter den traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt waren und PTBS-Symptome entwickelten, und auch hier zeigten sich die stärksten Symptome bei den Kindern, deren Mütter diese während dem letzten Schwangerschaftsabschnitt erlebten. Doch wie ist dies möglich?
Forschungsergebnisse der letzten 10 Jahre legen nahe, dass derartige Effekte vermutlich auf epigenetischen Mechanismen beruhen. Epigenetik ist das Studium der erblichen Veränderungen in der Genaktivität, die nicht aufgrund von Veränderungen in der DNA-Sequenz erfolgen. Die Epigenetik zeigt, wie Gene mit Umweltfaktoren interagieren, und wird mit vielen Veränderungen der Hirnfunktionen in Verbindung gebracht.
Eine wichtige Studie in diesem aufstrebenden Gebiet, veröffentlicht im Jahr 2004, zeigte, dass die Qualität der Brutpflege von Ratten erheblich das Verhalten der Sprösslinge im Erwachsenenalter beeinflusst.
Rattenjungen, die von ihrer Mütter während der ersten Woche des Lebens regelmäßig umsorgt und geleckt wurden, konnten im späteren Leben besser mit Stresssituationen und angstmachenden Situationen umgehen als Junge, zu denen wenig oder kein Kontakt aufgenommen wurde. Diese Ergebnisse selbst wären nicht so neu, doch man fand bei weiteren Untersuchungen heraus, dass diese Effekte durch epigenetische Mechanismen, die Ausdruck des Glucocorticoid-Rezeptors, die eine zentrale Rolle bei der Reaktion des Körpers auf Stress verändern vermittelt werden, verursacht wurden. Die Analyse der Gehirne von eine Woche alten Jungen offenbarte Unterschiede in der DNA-Methylierung (einem Prozess, bei dem die DNA chemisch modifiziert wird). Methylierung beinhaltet das Andocken kleiner, Methyl-Gruppen’ benannte Moleküle, welche aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen bestehen, auf bestimmte Abschnitte in die DNA-Sequenz eines Gens.
Welpen, die ein hohes Maß an Pflege und lecken erhielten, zeigten höhere Methylierung in jenen Regionen der DNA, die die Aktivität des Glukokortikoid-Gens regulieren, die wenig behüteten dagegen eine deutlich geringere, mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Stressverarbeitung. Auch Yehuda und ihre Kollegen stellten 16 unterschiedliche Gene fest, die bei den Müttern mit PTSD-Symtpomen. Einige dieser Gene regulieren die Funktion der Glucocorticoid-Rezeptoren und zwei – FKBP5 und STAT5b – hemmen direkt ihre Aktivität. Bei Personen mit PTSD ist die Aktivität dieser Gene reduziert, was die hohe Glukokortikoid-Rezeptor-Aktivität bei dieser Störung erklären könnte. Ähnliche Effekte wurden seither auch bei Missbrauchs-Opfern, Kriegsveteranen und Opfern des Nazi-Holocaust festgestellt.
Geringe Cortisol-Level stehen offenbar in direktem Zusammenhang mit dem Risiko, an Folgeerscheinungen traumatischer Erfahrungen zu erkranken, und die Veränderungen in den betreffenden genetischen Markern samt ihren Konsequenzen für die Stressbewältigung sind scheinbar in der Lage, auf Folgegenerationen übertragen zu werden. Diese epigenetischen Faktoren könnten im Zusammenhang mit genetischen Variationen erklären, warum manche Menschen leichter an PTSD-Folgen erkranken als andere.
In der tierexperimentellen Studie wurden die epigenetischen Modifikationen und die damit verbundenen Änderungen an den Glucocorticoid-Rezeptoren im Hippocampus, beobachtet – einer Hirnregion, die für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Epigenetische Marker könnten demnach bei der Bildung von traumatischen Erinnerungen dauerhaft angelegt werden. Vor kurzem berichteten Forscher von der University of Pennsylvania, dass epigenetische Marker durch zwei Generationen von Mäusen übertragen werden können, was darauf hindeutet, dass Kinder, die den Alptraum des World Trade Center-Angriffes noch in der Gebärmutter von ihren Müttern ‘erbten,’ sie wiederum an ihre eigenen Kinder weitergeben könnten.

Dieser Beitrag ist eine Materialsammlung in Zusammenhang mit einem Artikel, der in der ATMAN-Zeitung 1/2012 erschienen ist.

Quellen:

Clara Naudi: Epigenetik und Aufstellungen. In: Praxis der Systemaufstellungen 2/2011, S. 52 – 57
Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München: Piper 2004
http://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/tag/epigenetik/, aufgerufen am 24.1.2012
US National Library of Medicine auf: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/entrez?orig_db=PubMed&db=pubmed&cmd=Search&term=neuron%5BJour%5D%20AND%2048%5Bvolume%5D%20AND%20303%5Bpage%5D%20AND%202005%5Bpdat%5D, Original: 28. Oktober 2005, aufgerufen am 24.1.2012
http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/53101.html?p=4 17.1.2012

Vgl. Kindliche Traumatisierung verändert die Gene

2 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried,

    ca. ab der Hälfte des umfangreichen Textes dachte ich mir, daß hier wieder wissenschaftlich aufgezeigt wurde, was so selbstverständlich sein könnte.

    Für mich bleibt übrig, daß die Beschäftigung mit sich selbst sehr wichtig und sinnvoll ist und daß Veränderungen möglich sind.

    Liebe Grüße

    Dieter

    AntwortenLöschen
  2. Lieber Dieter,

    danke, ich finde es schön, wenn das, was wir auf dem Weg der Bewusstwerdung und Innenarbeit erleben und erfahren, auch von der Wissenschaft Bestätigung findet. Und dass wir auch die Wege der Heilung verbessern und verfeinern können, wenn wir besser verstehen, wie das Leben funktioniert.
    Liebe Grüße, Wilfried

    AntwortenLöschen