Samstag, 8. Oktober 2011

Zu viel, zu intensiv, zu schnell

Nach dem berühmten Traumaforscher Peter Levine ist eine traumatische Erfahrung gekennzeichnet durch: zu viel, zu intensiv, zu schnell.

Da haben wir schon die Leitvorstellungen unserer Lebenskultur: Wir wollen viel, wollen es intensiv und schnell. Wer will wenig? Vielleicht weniger Anstrengung oder Arbeitszeit oder Konflikt. Aber was die Dinge und Zahlen anbetrifft, soll es immer mehr werden. Wenig am Konto und wenig im Kühlschrank bedeutet Mangel, Mangel bedeutet Gefahr, und Gefahr wollen wir nicht, sondern Sicherheit. Davon können wir nicht genug kriegen. Also soll nicht nur der Kühlschrank, sondern auch die Tiefkühltruhe voll sein, und daneben die Regale des Vorratskellers. Das Konto dagegen ist nie voll genug, es gibt immer noch mehr, was darin Platz finden könnte, und die Sicherheit, die das gibt, ist äußerst fragil. Ich kann nie sicher sein, ob nicht am nächsten Tag eine riesige Rechnung aus irgendeiner Sache, die ich längst vergessen hatte, auftaucht, oder eine Einzahlung, auf die ich warte, nicht kommt. Es könnte auch ein Schicksalsschlag über mich hereinbrechen, der alle Mittel fordert. Also strebe ich nach mehr, mehr, ohne je auf der sicheren Seite zu landen.

Intensität ist ein weiterer Lockvogel, dem wir gerne auf den Leim gehen. Wir sind einen hohen Reizpegel gewohnt, weil wir in Umgebungen aufgewachsen sind und leben, die uns dauernd herausfordern. Fehlt die Herausforderung durch einen starken Reiz, wird uns sofort fad. Etwas Spannendes muss her, und wenn das ausgelutscht ist, braucht es den nächsten Kick. Wenn wir von einem Fernsehkanal zum nächsten zappen, damit unser Intensitätshunger gestillt wird, geht es uns wie Drogensüchtigen. Ein Event jagt das nächste, und damit sind wir gleich beim dritten Thema:

Die Schnelligkeit, ein Fetisch unserer Zeit. Es gibt Preise für die Schnellsten, im Laufen, Reden, Kochen, Rappen... Es gibt keine Preise für die Langsamsten, für die, die entschleunigen, beruhigen und ausgleichen. Die ganze Aufmerksamkeit geht zu den Lauten, Aufgeregten, Hektischen und Hysterischen, in den Medien, in der Politik und der Wirtschaft. „Beeil dich schon, trödel nicht so herum,“ so lautet die häufige Schelte an ein Kind, das das Prinzip der bedingungslosen Schnelligkeit noch nicht verstanden hat, das die Erwachsenenwelt dominiert. Dort wird jede Bremsung als Blockierung des eigenen Strebens und Weiterkommens interpretiert. Kaum kommt das Auto zum Stehen im Stau oder vor einer Ampel, setzt die Unruhe ein, die zum schnellen Weiterkommen drängt. Wir kommen gar nicht auf die Idee, dass wir Zeit gewinnen, wenn alles steht – zum Atemholen und Zurücklehnen. Wir sind überzeugt, dass es die Zeit nicht gibt, die niemand verlieren will.

Zu viel, zu intensiv, zu schnell – das war die Erfahrung bei einer Traumatisierung, die irgendwann passiert ist, früh im Leben, vielleicht schon weit vor der Geburt. In unserer Lebensform ist diese Traumastruktur allgegenwärtig, und es scheint geradezu, dass die Art, wie wir unser Leben gestalten, davon getragen ist. Damit reproduzieren wir unsere Traumatisierungen immer wieder und wieder, mit unserem Drängen: „Wann kommt endlich der Kellner? Wie lange braucht der noch vor mir in der Schlange? Wann wird der Film endlich spannend? Warum fährt der vor mir so langsam?“

Schließlich verstehen wir nur mehr eine Welt von Traumatisierten. Alles andere ist uns fremd und irritiert uns. Das Gestörte ist uns vertraut, das Verängstigte gibt uns Sicherheit. Eine verkehrte Welt, die wir uns da in unserem inneren Erleben zurecht gemacht haben.

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